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Der Focusing-Blog

Einen Raum in mir aufsuchen - FreiRaum im Focusing

Einen Raum in mir aufsuchen - FreiRaum im Focusing

Ein Beitrag von Christiane Henkel

 

Freiraum – was für ein Wort! Bei mir löst das Wort schon ein Aufatmen aus. Wie ist es bei Ihnen? Ich lade Sie ein, jetzt beim Lesen kurz inne zu halten und das Wort „Freiraum“ auf Ihren Körper wirken zu lassen. Was entsteht in Ihnen, wenn Sie „Freiraum“ hören? Nehmen Sie die Aufmerksamkeit einmal zu sich und spüren Sie in Ihren Hals-, Brust- oder Bauchraum hinein. Wie ist es dort? Schließen Sie gerne kurz die Augen und verweilen Sie ein paar Augenblicke in sich. Während Sie weiterlesen, behalten Sie einen Teil der Aufmerksamkeit bei sich. Wie ist jetzt Ihre innere Stimmung? Vielleicht bemerken Sie körperliche Empfindungen wie Weite, Durchatmen oder die Entspannung von Muskeln. Vielleicht haben Sie sofort innere Bilder vor Augen, die Sie an Orte führen, an denen Sie sich wohlfühlen, wo es angenehm für Sie ist oder Sie sich frei fühlen. Wenn sich nichts von alldem einstellt, dann ist es auch in Ordnung. Vielleicht mögen Sie diese kleine Übung später noch einmal wiederholen oder wenn Sie den ganzen Artikel gelesen haben, noch einmal von vorne beginnen.

Wir alle sehnen uns nach Freiraum. In der Kombination dieser beiden Begriffe „frei“ und „Raum“ sind Bilder und Empfindungen eingefaltet, zu denen wir häufig im Alltag keinen Zugang haben. Unsere inneren Räume sind vollgestellt, ja vielleicht sogar „zugemüllt“ mit allerlei Sorgen, Plänen, Problemen und Lösungen, Glaubenssätzen und Vorstellungen, Erwartungen und Ansprüchen und dem Kleinklein der vielen Aufgaben und Aktivitäten des Alltags. Da kann schon mal ein Gefühl von Enge entstehen!

Freiraum herstellen ist der erste Schritt in einem Focusing-Prozess (vgl. Gendlin 2012). Im Focusing wenden wir uns den vagen, impliziten, noch unklaren körperlichen Empfindungen zu, die wir in der Regel zu einem Thema in uns wahrnehmen. Doch bevor dieses körperliche Empfinden entsteht, nehmen wir uns Zeit, den Raum in uns zu entdecken. Eugene Gendlin, der Entdecker von Focusing, nannte diesen ersten Schritt ‚clearing a space‘, im deutschen Sprachgebrauch ist das Wort „Freiraum“ für diese erste Bewegung der körperlichen Aufmerksamkeit im Focusing-Prozess entstanden (vgl. Wilschko 2003, S. 130). Dieser Freiraum ist häufig nicht in uns spürbar, sondern kann erst mit einem bewussten Schritt in die innere Aufmerksamkeit freigelegt werden. Im Focusing kennen wir dafür verschiedene Wege. Ich möchte Ihnen zwei Möglichkeiten vorstellen:

Eine Möglichkeit besteht darin, zunächst die verschiedenen Themen, Sorgen oder Probleme, die mich gerade beschäftigen, zu benennen und wahrzunehmen, wo ich sie körperlich spüre. Wichtig dabei ist, dass ich nicht in das Thema hineingehe, ich nicht beginne zu grübeln oder anfange über Lösungen nachzudenken. Entscheidend ist ein gewisser Abstand: Da bin ich und da ist dieses Thema, das mich gerade beschäftigt. Ich BIN nicht dieses Thema, sondern ich kann mich zu dem Thema in Beziehung setzen, und zwar, in dem ich dem körperlichen Empfinden dazu Aufmerksamkeit schenke. Wie bemerke ich es in meinem Körper? Nun widme ich mich diesem Empfinden nicht eingehender, sondern frage mich, was jetzt ein guter Abstand wäre, den ich zu dem Thema einnehmen möchte. Es kann nützlich sein, Symbole wie z.B. Gegenstände oder Karten zur Hilfe zu nehmen, die für das Thema stehen. In welcher Richtung und Entfernung von mir möchte ich das Thema platzieren? Es geht nicht darum, Themen loszuwerden, sondern jetzt ein wenig Abstand von ihnen zu bekommen. So kann ich nach und nach meine Themen benennen und dann einen guten Abstand dazu finden. Wie ist es jetzt in meinem Körper, wenn all die Themen nicht mehr in mir sind, sondern in einem gewissen Abstand zu mir beiseite gelegt sind? Das, was nun in mir entstehen kann, ist Freiraum. Vielleicht fühlt es sich an wie ein bisschen mehr Luft bekommen oder durchatmen können.

Ein anderer Weg, Freiraum in mir zu suchen, ist es, mit einer Übung zunächst für körperliche Entspannung zu sorgen. Dies kann ein Bodyscan oder eine Qigong- oder Yoga-Übung sein, eine Atemübung oder progressive Muskelentspannung. Dies hilft als Vorbereitung dafür, dass die Aufmerksamkeit sich auf den Körper richten kann. Nach der äußeren Entspannung (die nicht zu tief sein sollte, dass man einschläft!), lenke ich nun meine Wahrnehmung nach innen. Bei Gendlin ist damit der ‚von innen gespürte Körper‘ (Gendlin 2012) gemeint. Ich mache mir bewusst, dass ich auch Innenräume habe. Eine Möglichkeit, diese Räume wahrzunehmen, kann sein, dem Atem in den Körper hinein zu folgen. Der Brust- und Bauchraum hebt und senkt sich mit der Atemwelle. Nun kann die Frage dazu kommen: Wo, an welcher Stelle meines Körpers, fühlt es sich für mich gerade angenehm, stimmig oder wohlig an? Was auch immer gerade ‚angenehm‘ für mich in diesem Moment heißt. Die Antwort kommt nun aus dem Körper. Vielleicht reagiert eine Stelle auf diese Frage nach dem Wohligen. Wo ist diese Stelle? Wie genau lässt sich das Angenehme beschreiben? Was macht die Stelle so angenehm? Hier kann ich nun Worte ausprobieren, die das Körperempfinden genau beschreiben. Ist es so? Oder passt ein anderes Wort noch besser? Meistens wird es körperlich mit einem Aufatmen oder einem genussvollen ‚Ja!‘ beantwortet, wenn eine Beschreibung so richtig gut passt. Ich bin eingeladen, das Wohlige noch ein wenig mehr auszukosten, wenn mein Körper mir bestätigt hat, was es genau damit auf sich hat. Ich kann meinen Atem an genau diese angenehme Stelle schicken und das Angenehme sich vielleicht sogar mit jedem Atemzug im Körper mehr ausbreiten lassen. Probieren Sie es einmal aus!

Freiraum ist viel mehr als ein „gutes Gefühl zu haben“ oder eine Imagination eines sicheren Ortes, die mir wohlmöglich noch von außen vorgeschrieben wird. Das Entscheidende an Freiraum, wie Gendlin ihn als ersten Schritt im Focusing-Prozess konzeptualisiert, ist, dass ich ein Gespür für meinen Körper als Ganzes erhalte, wenn ich ihm eine Pause gönne (vgl. Gendlin 2012, S. 95). Unser Körper kennt diesen Zustand, wir befinden uns nur so selten darin. Genauso wie unser Körper Schmerz und Unwohlsein signalisieren kann, kann er uns auch ein wohliges, stimmiges und lebendiges Erleben schenken. Dafür hilfreich ist eine freundliche Atmosphäre in sich selbst herzustellen, so entsteht ein Raum einer wohlwollenden Beziehung zu mir selbst. „Dieser Raum ermöglicht, verstehend mit sich selbst zu fühlen, sich selbst ohne Bewertung freundlich zuzuhören, absichtslos, neugierig und mit Staunen innerer Bilder zu begleiten“ (Renn 2016, S. 48). Es kann ein Gefühl von ‚in mir zu Hause sein‘ entstehen. Wenn ich übe, immer wieder ein wenig Platz in mir zu schaffen und die Themen und Probleme auf Abstand zu bringen, so kann ich im Alltag öfter in diesen FreiRaum eintreten. Es entsteht ein innerer Erlebensraum, in dem ich mich öffnen kann für den Reichtum meiner Erfahrungen, für unbelastete Beziehungen zu anderen Menschen und auch für spirituelles Erleben. „Im FreiRaum öffnen sich Gefühle und Erfahrungen in der Dimension von Glück, Vertrauen, Zu-Hause-Ankommen, Geborgenheit, nährende Sicherheit, Zutrauen, spiritueller Tiefe, Verbundenheit usw.“ (Renn 2016, S. 55).

Zu schön um wahr zu sein? Gehen Sie noch einmal an den Anfang des Artikels zurück und gönnen Sie sich einen Hauch von Freiraum – gleich jetzt in den nächsten Minuten.

 

Literatur:

Gendlin, Eugene (2012): Focusing. Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch.

Renn, Klaus (2016): Magische Momente der Veränderung. Was Focusing bewirken kann. Eine Einführung. München: Kösel.

Wiltschko, Johannes (2003): Freiraum, Freiraum schaffen. In: Stumm, G./ Wiltschko, J. /Keil, W.W. (Hrsg.): Grundbegriffe der Personzentrierten und Focusing-orientierten Psychotherapie und Beratung. München: Pfeifer bei Klett-Cotta, S. 130-133.

 

Dieser Artikel ist in der Zeitschrift "Praxis Gemeindepädagogik", Heft 1/2024 erschienen.

 

Christiane


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