Die Frage nach dem Felt Sense ist die Frage nach dem Herzen von Focusing.
Der Felt Sense passt gar nicht gut mit unserem Zeitgeist zusammen, der es ja gerne glänzend und geschmeidig hat. Der Felt Sense ist eher unbequem, weil er so unscheinbar ist. Noch dazu macht er sich, wenn er spontan auftritt, gern mit einem leichten Unbehagen oder Unwohlsein bemerkbar. Als Alltags-Felt-Sense kennst du dieses „Es liegt mir auf der Zunge, aber fällt mir gerade nicht ein“ – Gefühl. Dieses „Ich habe ganz sicher etwas vergessen, aber was ist es nur?“ – Gefühl. Das kann nagend und quälend sein.
Wenn es dann kommt, wenn es dir dann einfällt … dann bringt es eine körperliche Erleichterung mit. Ein Ausatmen. Ja, das war es, was gefehlt hat! Das nennen wir einen Felt Shift – eine im Körper gut spürbare Veränderung. Der Clou daran ist, dass du ganz genau weißt, dass es genau dieses Wort war, nach dem du gesucht hast. Woher aber weißt du das? Wenn du es vorher nicht wusstest? Es könnte doch auch ein ganz anderes Wort sein, nachdem du gesucht hast? Wie kannst du das wissen?!
Du weißt es einfach - auf eine ganz simple, aber überzeugende Weise. Dein Körper weiß es. Ich könnte dir 20 andere Wörter vorschlagen. Es würde an deiner Gewissheit nichts ändern. Für mich ist das ein äußerst faszinierendes Phänomen.
Eugene Gendlin, Begründer der Focusing-Methode, beschreibt das so:
Fühlen Sie das Unklare?
Wenn Sie das fühlen, was Sie nicht kennen, dann ist das Focusing. Sie wissen nicht, was es ist, und doch ist es da. Es hat sein eigenes Leben. Wenn Sie versuchen, es zu definieren, wehrt es sich und verneint das, was Sie dachten. Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit eine Weile auf den „Felt Sense“ richten, wird er etwas tun. Lassen Sie ihn gewähren. Bleiben Sie einfach bei ihm. Wenn Sie ihn verlieren, kommen Sie zu ihm zurück. Leisten Sie ihm Gesellschaft. Stellen Sie ihm Fragen.
Hat Ihr „Felt Sense“ solch ein Eigenleben?
Manchmal hat man zum Beispiel das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, obwohl, objektiv gesehen, alles in Ordnung ist. Die Situation scheint vollkommen problemlos zu sein, und doch ist da dieses merkwürdige und unbestimmte Gefühl. Man versucht, es sich auszureden, aber es hat sein Eigenleben und lässt sich nicht vertreiben. Wenn es sich geöffnet und erklärt hat, kann plötzlich etwas Wichtiges herauskommen. Eine solche Vorahnung ist eine Art von „Felt Sense“. Vorahnungen sind aber selten.
Focusing ist eine Möglichkeit, Ihren Körper dazu zu bringen, dass er Ihnen solch eine Vorahnung gibt, wann immer Sie es wünschen. Nur würden wir es jetzt nicht mehr „Vorahnung“ nennen, denn dieses Wort hat eine beschränktere Bedeutung. Wir nennen es einen „Felt Sense“. Auf den ersten Blick erscheint der Felt Sense nicht sehr vielversprechend, fast ohne Bedeutung. Vielleicht sagen Sie: „Was? Dieses schwache, unbefriedigend vage, unklare Gefühl? Soll daraus etwas werden? Ja, genau das ist es. Sie befinden sich am rechten Ort.
Eugene Gendlin in „Dein Körper, dein Traumdeuter. Innere Achtsamkeit: Mit Focusing Träume verstehen.“ Klett-Cotta, 2009, S. 115 f.
Die Einladung, die sich daraus ergibt, ist im Grunde ebenso simpel: Nimm dir irgendeine Frage vor, die dich beschäftigt, und bleib doch mal an diesem unklaren Ort. Bleib mal mit deiner Aufmerksamkeit dort, in deinem Körper, in diesem Körperraum, den du von innen wahrnehmen und bewohnen kannst. Üblicherweise sind wir es nicht gewöhnt, den Körper von innen wahrzunehmen, aber die Fähigkeit dazu haben wir durchaus. Bleib einfach mal dort, mit dem unklaren, schwachen, unbefriedigend vagen Etwas. Gib dir dafür, sagen wir 2-3 Minuten.
Eine weitere unbequeme Sache mit dem Felt Sense ist, dass wir ihn nicht herstellen oder zwingen können. Wir können aber eine Haltung einnehmen, die offen und auf eine freundliche Weise interessiert ist. Ohne zu viel zu wollen. Es ist eher wie mit einem etwas scheuen Tier. Du setzt dich in seine Nähe und schaust ihm nicht in die Augen. Du signalisierst mit deiner Haltung, dass du in friedlicher Absicht kommst. Und wartest ab, was geschieht. Das leise Glücksgefühl, das sich einstellen mag, wenn das Tier sich schließlich nähert und an deiner Hand schnuppert, ist für mich durchaus vergleichbar mit dem Erleben eines Felt Sense. Es geht tief, es fühlt sich richtig an und etwas in mir hat es schon immer gewusst.
Der Felt Sense ist nichts Esoterisches, er ist von seinem Wesen her körperlich und konkret. Und weil das so ist, kann man auch mit dem Körper üben oder trainieren, einen Felt Sense hervorzurufen und wahrzunehmen. Wozu solltest du das tun? Natürlich musst du das gar nicht tun. Wenn ich von mir spreche, kann ich sagen: Meine Beschäftigung mit dem Felt Sense war und ist für mich lebensverändernd auf eine heilsame, entlastende und inspirierende Weise. Mein Gespür für Situationen hat sich wesentlich verändert. Ich nehme mich selbst in der Situation anders wahr und habe einen deutlicheren Bezug dazu, was für mich „stimmt“ – was mir gut tut oder auch eben nicht gut tut. Wo es mich hinzieht oder auch, wo es mich wegtreibt (das ist manchmal das Einfachere). Achtung für meine ganz persönliche Wesensart ist dazu gekommen. Vertrauen in Beziehungen. Ich gehe genießerischer durch die Welt, fühle mich sicherer und laufe vor meinen Ängsten nicht mehr davon. Dabei bin ich nicht weniger verletzlich als früher, es ist nur nicht mehr so anhaltend verstörend, wenn es geschieht.
Gendlin betont, dass er Focusing und den Felt Sense nicht erfunden hat. Es ging ihm in erster Linie darum, nachvollziehbare Schritte zu beschreiben, wie wir ihn für uns selbst finden und davon profitieren können. Das Konzept wird auch von anderen Therapieschulen gewinnbringend genutzt. Beispielsweise bezieht sich Peter Levine mit seinem Somatic Experiencing auf Gendlins Konzept des Felt Sense. Ein Interview mit ihm (auf Englisch) findest Du hier: https://www.youtube.com/watch?v=ZBLe84U7AaM.
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