Über das Implizite im Focusing
Im Focusing fragen wir das Implizite an. Der Zugang geht ganz unspektakulär über den Körper, den wir alle zur Verfügung haben. Weil wir gleichzeitig in Verbindung sein können mit allen Aspekten eines Themas oder Problems, ist diese Arbeit mit dem Impliziten so wirksam. Wir können sogar mit den Facetten des Themas in Verbindung sein, die unserem bewussten Denken gerade gar nicht zugänglich sind. Damit haben wir eine Fülle an Möglichkeiten zur Verfügung, die unsere Entwicklung unterstützt und voranträgt.
„Implizieren ist immer komplexer organisiert und in jeder Weise präziser, als ein umwelthaftes Geschehen je sein kann.“ – E. Gendlin1
Die Einladung ist: Versuche nicht, das Implizite allein über dein kognitives Verstehen zu erfassen. Nimm es von Beginn an auch als ein körperlich-sinnliches Phänomen, das über unser bewusstes Begreifen weit hinaus geht.
Mein zweites Bild für das Implizite ist die Quelle eines Flusses. Das Wasser, das aus der Tiefe eines Gesteins an die Oberfläche kommt. Was wir davon sehen können, ist die Bewegung des Wassers und wie wunderbar es aussieht, wenn der Wasserdruck gewölbte, bewegte Formen auf der Wasserfläche entstehen lässt. Was wir nicht sehen, aber wissen oder ahnen, ist die weit verzweigte unterirdische Welt, in der das Wasser sich sammelt, und die Kraft, die es nach oben ans Tageslicht bringt. Dazu kommen all die molekularen Prozesse, die sich im Wasser und zwischen Wasser und Erde, zwischen Wasser und seinen mikroskopisch kleinen Bewohnern vollziehen. Das ist alles gar nicht mit dem Verstand zu erfassen, und doch ist es da. Auch hier haben wir einen Raum, der weit über das Sichtbare hinausweist und verbunden ist in alle möglichen Lebensprozesse hinein.
Hast du Lust, mit diesen Bildern einen Moment zu verweilen? Was entsteht in dir dabei?
Für Gendlin ist das Implizite etwas Bewegtes. Er sieht darin die allgemeine Lebenskraft verortet, die aus sich selbst heraus nach Entwicklung und Entfaltung strebt. Er nennt sie „Carrying Forward“ (dt. Vorantragen). Dieses ganz grundlegende Wissen über Wachstum und Leben benötigt kein eigenes Gehirn. Es ist einfach da. In allen Zeitaltern und Kulturen gibt es dafür Begriffe: Ruach (hebräisch), Grünkraft (Hildegard von Bingen), Élan vital (Henri Bergson), Chi (u.a. Daoismus, TCM) sind nur einige davon. Und so formuliert Gendlin:
„In diesem Sinne können wir sagen, dass es im Implizieren immer darum geht, dass das Leben gelingt, dass es weitergeht, dass es glückt … Es könnte als nächstes auch etwas Pathologisches impliziert sein, aber auch und vielleicht „wahrer“ ein Weg zur Heilung, denn was impliziert ist, ist nicht irgendein Inhalt, sondern ein Vorantragen.“2
Die Magie von Focusing besteht darin, aus der Verbindung mit dieser mächtigen Ressource Antworten kommen zu lassen, die für uns wesentliche und stimmige Schritte enthalten.
1 Ein Prozessmodell, S. 117
2 Ein Prozessmodell, S. 161
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