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Der Focusing-Blog

Freund oder Feind?

Freund oder Feind?

Ein paar prinzipielle Anmerkungen zum so genannten „inneren Kritiker“

 - Von Hans Neidhardt

 

Der „innere Kritiker“ ist – wie andere innere „Anteile“ auch (z.B. „Kind“, „Antreiber“, „Rechtmacher“ usw.) – eine Bezeichnung für einen strukturgebundenen Erlebensprozess. „Experiencing structure bound in its manner“ bedeutet: ein komplexer innerer Vorgang (Denken, Fühlen, Wahrnehmung, Handlungsimpuls) folgt einem automatisierten, immer wieder ähnlichen, sich wiederholenden, gleichförmigen Muster. Für dieses Muster wählen wir dann (Sprach-)Bilder, die uns die Verständigung erleichtern und vor allem Differenzierung ermöglichen sollen. Musteraktivitäten finden immer in der Gegenwart – genau jetzt! - statt (oder eben auch nicht oder kaum). Sie werden durch innere oder äußere Signale in Gang gesetzt, sind manchmal klar und deutlich erkennbar, oft aber nicht – eher wie eine Beimischung, ein Unterton, eine Eintrübung des aktuellen Erlebens.

Der automatisierte innere Prozess, den wir „innerer Kritiker“ nennen, lässt sich u.a. an folgenden Phänomenen festmachen: (ver-)urteilende kritische Gedanken über das eigene Fühlen und Handeln, Verengung der Selbstaufmerksamkeit auf alles, was nicht in Ordnung ist, Ärger über die eigenen Fehler, über tatsächliches oder vermeintliches Ungenügen und Versagen. Das kann so weit gehen, dass Selbstverachtung, Selbsthass und das Bedürfnis nach Selbstvernichtung so stark werden, dass man buchstäblich an sich kein gutes Haar mehr lässt.

Wenn ein solcher „Kritiker-Prozess“ abläuft, entdeckt man außerdem andere aktivierte innere Prozesse („Anteile“). Das sind oft verängstigte, schuldbewusste so genannte „innere Kinder“, aber nicht zwangsläufig und nicht immer. Ein („animalischer“, lustvoller) Impuls, ein eindeutiges erwachsenes „Nein“, eine sinnlich-sehnsüchtige Hinbewegung, eine überpersönliche („spirituelle“) Regung von Mitgefühl… - prinzipiell kann jede nur vorstellbare innere Bewegung ein potentielles „Kritiker-Opfer“ sein, nicht nur ein so genanntes „inneres Kind“.

Zusätzlich findet man sehr oft reflexartige Abwehrbewegungen gegen den „Kritiker“: Trotz und Rebellion, aber auch intensive rationale Rechtfertigungsversuche, die die Kritik widerlegen sollen.

So entfaltet sich ein pepetuum mobile aus Selbstvorwurf („innerer Kritiker“), Schuldgefühl („Kritiker-Opfer“) und Abwehr:

 

 

Man kann getrost davon ausgehen, dass diese inneren Vorgänge erlernt und in neuronalen Netzwerken im Zwischenhirn gebahnt sind. Niemand kommt mit solchen Mustern zur Welt. Siehe dazu z.B. die Ideen von Freud über die Entstehung des so genannten Über-Ichs oder die Konzepte der Objekt- und Selbstrepräsentanzen der neueren Psychoanalyse. Es ist auf jeden Fall sinnvoll, genau zu verstehen, wie und wodurch sich diese Muster geformt haben, um dann ihre automatische Aktivität im gegenwärtigen Moment besser beobachten zu lernen:

„Ah, mein so genannter innerer Kritiker ist jetzt gerade aktiv. Ah, diese kleine Atemnot und Enge in der Brust. Ah, diese intensiven Bemühungen, das alles rasch loszuwerden.“

„Making space“ (Freiraumschaffen) im Focusing bedeutet ja bekanntlich, sich selbst mental, emotional und körperlich mit einem Zustand zu verbinden, der eine solche Beobachtung überhaupt erst ermöglicht. Im Bild der inneren Anteile: „Ich“ habe genug Freiraum, um den „inneren Kritiker“ wahrnehmen zu können, und bin gleichzeitig nicht mit dem „Opfer“ des Kritikers identifiziert. Und bin auch nicht mit anderen inneren Anteilen identifiziert, die den „Kritiker“ als „Gegner“[1] betrachten und ihn loswerden möchten.

So sind z.B. Suchtprozesse oft als automatisierte Lösungsversuche gegenüber Kritiker-Attacken zu verstehen („Das Über-Ich ist gut in Alkohol löslich.“)

Psychotherapie, also auch Focusing-Therapie, hat viel mit solchen komplexen strukturgebundenen Prozessen zu tun. Dabei ist „making space“ das A und O: Ohne Freiraum keine Möglichkeit, sich auf das strukturgebundene „experiencing“ innerlich beziehen zu können – nicht identifiziert und auch nicht abgespalten, sondern bezogen. Oder, anders gefragt: Kann ich im Freiraum innere Haltungen entwickeln, die es möglich machen, dem so genannten „Kritiker“, seinem „Opfer“ und seinem „Gegenspieler“ auf eine Art und Weise zu begegnen, die in guter Weise dem Leben und der Gesundheit dient? Das ist möglich. Manchmal aber gar nicht so einfach.

 

Der „Feind“ im Inneren

Als ich vor mehr als 30 Jahren zum ersten Mal lesend[2] der komplizierten Heilungsgeschichte einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS) begegnete, war ich tief beeindruckt, wie verschiedene Persönlichkeitszustände abwechselnd die Kontrolle über das Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen übernehmen können, ohne voneinander zu wissen. Aus der Beschäftigung mit der damals noch „multiple Persönlichkeitsstörung“ genannten DIS entstand das Interesse, Konzepte[3] kennenzulernen, die die „normale“ Multiplizität strukturgebundener Erlebensphänomene abbilden.

Wer als Psychotherapeut:in mit Überlebenden sexueller, körperlicher und/oder seelischer Gewalt zu tun hat, kommt nicht daran vorbei, sich auch mit extrem bösartigen Gedanken-, Gefühls- und Verhaltenszwängen der Klient:innen zu beschäftigen. Der „Feind“ von damals sitzt gewissermaßen im „System“ der Klient:innen („Täterintrojekt“, „Täterimitation“). Und die Frage ist: Wie lassen sich zerstörerische Impulse unter Kontrolle bringen und eventuell sogar nutzen? Michaela Huber fasst in ihrem Buch über den „inneren Feind“[4] die Erfahrungen aus der Arbeit mit schwer traumatisierten Menschen zusammen. Focusingtherapeutisch würde ich sagen; Hier geht es um „making space“ an den Stellen, wo „der Spaß aufhört“: Wie denkt dieses „innere Monster“? Was will „die dunkle Seite“? Wie „arbeitet“ der „Feind im Innern“? Letztlich: Wie kann man seine Kooperationsbereitschaft gewinnen, damit er sich vom Zerstörer in einen inneren Beschützer verwandeln kann, der nicht mehr gewalttätig, aber klar und sehr kraftvoll agiert? Ein bisschen wie Frau Mahlzahn aus Michael Endes „Jim Knopf“, die sich von einem kinderquälenden Scheusal in einen goldenen Drachen der Weisheit verwandelt. Als Therapeut:in kann man dieses „making space“ nur so weit unterstützen, wie man mit den eigenen „dunklen“ Anteilen einigermaßen im Reinen ist und einigermaßen furchtlos den machtvollen dunklen Aspekten im Prozess des/der anderen entgegentreten kann, ohne sich in sinnlosen Kampfhandlungen zu verstricken und ohne zu kneifen.

Sheldon Kopp[5]: „Alles Böse ist potentielle Vitalität, du musst es nur umsetzen. Alles an dir ist etwas wert, wenn du es nur besitzt.“

 

Der „innere Kritiker“ als kritischer (!) Freund

Mein gendergerechter innerer Kritiker macht mich darauf aufmerksam, dass die urteilende innere Stimme in einem kritisierenden strukturgebundenen Erlebensprozess natürlich auch weiblich sein kann. „Kritiker“, auch „Täterintrojekte“, sind keinesfalls ausschließlich Männer. Ich denke z.B. an einen Klienten, der sich (ungern) daran erinnert, wie seine Mutter ihm als 22-Jährigen bei einer frechen Bemerkung auf den Mund schlug. Die reale Mutter ist längst verstorben, spukt aber als Introjekt in Form extremer Selbstentwertungen weiterhin im Erlebensprozess des ansonsten sympathischen und tüchtigen Klienten herum, der sich Lauf der Therapie zögerlich, und von Angst- und Schuldgefühlen begleitet, nun den Impuls zu spüren erlaubt, eigentlich zurückschlagen zu wollen.

„Recognize – allow – investigate – nurture“: Mit dem Akronym „RAIN“ skizziert die buddhistische Lehrerin Tara Brach[6] den Wandlungsprozess, den wir im Focusing mit „making space“ (absichtsloses Bemerken, Einverstandensein) und „felt sensing“ (unmittelbares, frisches Bezugnehmen) meinen. Wenn sich der so genannte „Kritiker“ dann dadurch genügend gesehen, verstanden und gewürdigt fühlt, kann er sich in das „Konzert der inneren Anteile“ einfügen. Es mag Momente geben, in denen es sehr wichtig ist, dass sein Scharfsinn und die Präzision seines Urteilsvermögens die erste Geige spielen. Und es mag Momente geben, in denen er sich entspannt zurücklehnt und (eventuell sogar schmunzelnd) dabei zuschaut und zuhört, wie andere auf die Pauke hauen oder in die Piccoloflöte blasen.

Und es mag Momente geben, in denen auch der so genannte „innere Kritiker“ einsieht, dass man ohne „Dreck am Stecken“ aus einem Dilemma oder einer Verstrickung oder einer toxischen Bindung nicht herauskommt. Und dass man mit dem unvermeidlichen Erleben von Schuld klarkommen kann, wenn man bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Dann ist das Gewissen „erwachsen“ geworden.

Manchmal dauert das ein paar Jahre und erfordert einiges an „making space“ und „felt sensing“.

 

 

 

 

 

[1] Leider hat das lesenswerte Buch von J. Peichl zu diesem Thema einen unglücklichen Titel (der dann auch im Untertitel gleich relativiert wird): „Rote Karte für den inneren Kritiker – wie aus dem ewigen Miesmacher ein Verbündeter wird“ (Kösel 2024, überarbeitete Fassung)

[2] Casey, J.F.: Ich bin viele, Rowohlt 1992

[3] Schwartz, R.: Inner familiy systems / Schulz v. Thun: Inneres Team / Stone, H.&S.: Voice Dialogue / Assagioli, R.: Psychosynthese / Wittemann, A.: Individualsystemik / Watson, Hartmann, Peichl u.a.: Ego States

[4] Huber, M.: Der Feind im Innern, Junfermann 2013

[5] Kopp, S.: Triffst du Buddha unterwegs..." Psychotherapie und Selbsterfahrung, Frankfurt/Main 1978

[6] Brach, T.: Dein furchtloses Herz, O.W. Barth 2020

 

 


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