Alpträume können mich um den Schlaf bringen. Sie stecken mich in aussichtslose Situationen und konfrontieren mich mit den unangenehmsten Gefühlen. Am liebsten möchte ich das alles direkt nach dem Aufwachen vergessen, und doch trage ich oftmals den ganzen Tag diese bestimmte unangenehme Atmosphäre mit mir herum …
Anstatt mich davon quälen zu lassen, wäre es doch wunderbar, die mächtige Energie, die in den Alpträumen gebunden ist, für das Tagleben zur Verfügung zu haben! Focusing ermöglicht mir, aus dem FreiRaum heraus einen verträglichen Zugang zu finden, der den Schrecken schwinden lässt und nicht selten überraschende und ermutigende Botschaften bereithält.
Manchmal reicht es schon, den Alptraum gut zu versorgen, damit sich etwas entspannt. Das kann zum Beispiel bedeuten, ihn aufzuschreiben oder etwas dazu aufzumalen und das Papier an einem sicheren Ort zu verstauen. Oder ihn einer vertrauten Person zu erzählen, die dabei bleibt und bis zum Ende zuhört, egal wie grauenhaft die Geschichte auch werden mag.
Was liegt darunter?
Focusing-Arbeit mit Träumen hat mir beigebracht, die heftigen Gefühle, die für Alpträume so typisch sind, nicht „wörtlich“ zu nehmen: Lass die Angst oder den Schrecken doch versuchsweise einmal nicht mehr und nicht weniger sein als einen Signalgeber. Wie eine rote Warnleuchte, die sagt: Schau mal hierher, hier passiert etwas Wichtiges! Vielleicht gelingt es ja, dein heftiges Gefühl für einen Moment wie eine Buchseite umzublättern und zwar respektvoll, aber doch neugierig zu schauen, was eigentlich darunter liegt?
Ich möchte die Bedeutsamkeit der Gefühle damit nicht schmälern, sondern mir erscheint das eine sehr bedeutsame Veränderung des Blickwinkels auf einen Alptraum zu sein. Denn die heftigen Gefühle – z.B. Todesangst, Entsetzen, große Scham – sind es ja, die mich davonjagen, möglichst weit weg vom Alptraum. Jedoch wollen die Träume uns gar nicht erschrecken. Sie sind auf unserer Seite und verrichten ihre Arbeit auch dann, wenn wir uns nicht mit ihnen beschäftigen. Sogar dann, wenn wir uns gar nicht an sie erinnern. Sie „verträumen“ für uns nach und nach die Themen, die das Leben an uns heranträgt, und schützen uns auf diese Weise vor Reizüberflutung und Überforderung. Manchmal ist ein Thema zu groß, um es auf diese Weise im Schlaf zu verarbeiten, dann müssen wir uns tagsüber damit beschäftigen. Wiederkehrende Alpträume können uns auf solche Themen hinweisen.
Warum dann aber diese heftigen, überflutenden Gefühle im Traum? Es sind die Gefühle in Reinform. Der Traum stellt einen Bezug zwischen den großen Gefühlen und der Lebenswelt der träumenden Person her – er gibt den Gefühlen eine Bühne und stellt ihnen Bühnenbild, Handlung und Personal zur Verfügung. Mit der Zeit führt das dazu, dass die Gefühle sich beruhigen können[1].
Der richtige Abstand
Ich komme zurück zu meinem Vorschlag: Nimm doch dein Alptraum-Gefühl einmal probeweise nicht wörtlich, sondern begreife es schlicht als Versuch des Traumes, deine Aufmerksamkeit zu erregen. Und während du dich deinem Traum jetzt zuwendest, achte bitte auf deinen FreiRaum (sonst funktioniert es nicht). Du kannst zum Beispiel die ganze Angst, die der Traum ausgelöst hat, in deiner Vorstellung an einen guten Ort geben, wo sie für den Moment versorgt ist. Und dann den Unterschied körperlich wahrnehmen. Möglicherweise gelingt dir das allein nicht so gut, dann nimm deinen Traum mit in dein nächstes partnerschaftliches Focusing!
Für deinen FreiRaum kann es auch sehr dienlich sein, den ganzen Traum ein Stück wegzubeamen, z.B. in deiner Vorstellung wie auf eine Leinwand oder einen Bildschirm, so dass du aus einem angenehmen Abstand darauf schauen kannst und nicht „hineinfällst“. Oder du malst etwas von deinem Traum auf und bringst das Papier in einen guten Abstand zu dir. Und nun kannst du, wie jeden anderen Traum, auch deinen Alptraum zu verschiedenen Aspekten befragen, wie Eugene Gendlin es vorgeschlagen hat[2].
Die Traum-Bevölkerung
Zum Beispiel kannst du dir die Traum-Besetzung anschauen, also die Personen oder Wesen, die deinen Traum bevölkern. Oft ist es erhellend, in eine der Personen „hineinzuschlüpfen“: Nehmen wir an, da ist ein Bösewicht im Traum, der dich verfolgt. Nun kannst du mal versuchsweise anspüren, wie es sich von innen anfühlt, dieser Bösewicht zu sein … möglicherweise findet sich dabei ein Aspekt, der dir in deinem Leben gut tun würde. Vielleicht stellst du fest: Dieser Kerl ist übertrieben brutal, aber ein bisschen mehr Durchsetzungskraft würde mir in meinem Leben helfen. Oder nehmen wir an, du siehst in deinem Traum, wie jemand von einer Klippe in die Tiefe fällt. Wie fühlt sich das Fallen von innen gespürt an? Ah, darin ist eine Ahnung von Fliegen können, von Weite, von Durchatmen … der Traum hat dir etwas Neues gebracht. Eine Qualität, die dir im Leben vielleicht fehlt?
Kannst du es im Körper spüren?
Es gibt viele Techniken und Möglichkeiten, mit Träumen zu arbeiten, und wir können sie alle nutzen. Im Focusing ist das Besondere, dass wir alles, was zum Traum auftaucht, im Körper überprüfen. Die Frage lautet immer: Kannst du es im Körper spüren? Ist da eine körperliche Resonanz von Stimmigkeit? Liegt darin etwas Wesentliches? Wir können es oft nicht in Worte fassen, aber der Körper hat ein genaues und feines Gespür dafür, wo es langgeht. Im Focusing nennen wir das den Felt Sense. Wenn wir es nicht im Körper spüren, gehen wir weiter und suchen einen anderen Zugang zum Traum.
Ein neues Ende für deinen Traum
Für die Arbeit mit Alpträumen bietet sich auch an, ein alternatives Ende für den Traum zu finden. Auch dazu braucht es, wie oben beschrieben, zunächst FreiRaum, also einen guten Abstand zum bedrohlichen Traumgeschehen. Zusätzlich kannst du auch nach einem angenehmen Ort in dir selbst, in deinem Körper, schauen und es dir dort behaglich machen, bevor du dich dem Alptraum zuwendest. Dann kannst du von deinem behaglichen Körperort aus Kontakt zur Atmosphäre des Traums aufnehmen und dich gleichzeitig fragen: „Was wäre jetzt gut?“ Richte diese Frage nicht an dein rationales Denken, sondern an deine Intuition, deinen Körper … an deinen Felt Sense. Lass dir Zeit, warte ein paar Atemzüge lang ab und lass dich überraschen, was in dir als Antwort auf diese Frage entsteht. Vielleicht entsteht in der Traumgeschichte plötzlich ein Notausgang, wo zuvor eine Sackgasse war? Vielleicht kommt ein Helferwesen angeflogen und nimmt dich mit, so wie Fuchur, der Drachen aus der Unendlichen Geschichte? Vielleicht schrumpft der Bösewicht auf Ameisengröße? Etwas in unserem Inneren „weiß“ oft, wie es sein müsste. Es lohnt sich, dort mal anzufragen. Auch viele traumatherapeutische Ansätze vertrauen auf dieses besondere innere Wissen, das für uns anfragbar ist und hilfreiche oder unterstützende Szenarien entstehen lassen kann (z.B. Luise Reddemann[3]).
Hast du ein neues Ende für deinen Traum gefunden, so kannst du dich wieder fragen: Ist es das? Kannst du es im Körper spüren? Gibt es sowas wie ein inneres Einverständnis oder eine kleine Erleichterung? Sofern sich das neue Ende aus deinem inneren Erleben entfaltet hat (nicht aus dem rationalen Denken), ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass du im Körper eine Art wortlose Zustimmung, zusammen mit einer körperlichen Entspannung oder einem Ausatmen, spüren kannst.
Wenn gar nichts geht ...
... und der Alptraum einfach nur alptraumartig bleibt, dann erlaube dir immer wieder aufs Neue, bewussten Abstand dazu - FreiRaum! - zu finden. Gendlin will uns dazu ebenfalls ermutigen, er sagt: "... in dem Moment, in dem du sagst „Ja, ja, das kann mich überschwemmen“, wirst du nicht mehr überschwemmt. Darin liegt eine gewisse Ironie, die ich euch zeigen möchte. Das ist etwas sehr Wichtiges, das man gleich in der ersten Stunde lernen muss. In dem Moment, in dem man sagt: „Das (dort) kann mich (hier) überschwemmen“, ist es dort und ich bin hier. Es ist dort, und ich bin da. Und auf diese Weise finde ich mich."[4]
[1] Stefan Hau beschreibt in seinem Artikel über Traumforschung: „Diesen Prozess hat Hartmann hervorgehoben: Der Traum hilft beim Kontextualisieren von Emotionen. An einem "sicheren Ort" werden neue Verbindungen erstellt und somit die Zustände hoher Emotionalität allmählich beruhigt und handhabbar gemacht. Dies gelte aber nicht nur für Träume nach einem Trauma, sondern könne auch für alle andere Traumaktivität angenommen werden. Wann immer eine verstörende Erfahrung sich ereignet hat, ein Konflikt vorliegt, eine gefährliche Situation für das Selbst, und solange die Ich-Kapazitäten noch intakt sind, werde im Traum versucht, Verknüpfungen zu anderen Erfahrungen aus dem Alltagsleben herzustellen, um die problematische Erfahrung mit anderen Erfahrungen mit weniger affektiver Relevanz zu verweben.“ (nachzulesen bei Psychoanalyse aktuell; Stand 27.02.2023). Ernest Hartmann ist ein Traumforscher, der sich viel mit Alpträumen beschäftigt hat (www.ernesthartmann.com).
[2] Eugene T. Gendlin: Dein Körper - dein Traumdeuter. Innere Achtsamkeit: mit Focusing Träume verstehen. Klett-Cotta, 2. Aufl. 2018.
[3] Luise Reddemann: Imagination als heilsame Kraft. Ressourcen und Mitgefühl in der Behandlung von Traumafolgen. Klett-Cotta, 23. Aufl. 2022.
[4] Zitat aus dem Buch „Focusing in der Praxis“ von Eugene Gendlin und Johannes Wiltschko, Pfeiffer bei Klett-Cotta, Stuttgart 1999, S. 24-26.
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