Ein Beitrag von Jürgen Allgäuer
Traditionelle männliche Sozialisationsmuster können als kollektives Strukturgebundenes Erleben verstanden werden. Bereits Buben lernen die systematische De-Sensibilisierung und Externalisierung von geschlechtsuntypischen Anteilen. Die geschlechtssensible Haltung und Präsenz des Beraters eröffnet einen Beziehungsraum – von Mann zu Mann – in dem erstarrtes und eingeengtes Erleben wieder erfahrbar wird. Focusingtherapeutische Interventionen vertiefen und verganzheitlichen diesen Prozess. Die eigene Lebendigkeit wird auf eine Weise spürbar, in der Kraft und Verletzlichkeit sich gegenseitig durchdringen. Die Sehnsucht nach Kontakt – zu sich selbst und zu anderen – ist der Wind in den Segeln.
Männliche Sozialisation - Systematische Kontaktvermeidung
Identitäten formen sich laufend durch Sozialisationsprozesse aus, die innerhalb der konkreten sozialen Praxis verlaufen. Ein integraler Bestandteil jeder Sozialisation ist das jeweilige Geschlecht als eine von mehreren sozialen Kategorien. Dazu Burkhard Oelemann: Menschliche Kindheit und Jugend ist zutiefst geprägt von der Geschlechtszugehörigkeit und dem notwendigen Erlernen einer gesellschaftlich akzeptierten Geschlechterrolle. Diese Rollenvorgaben sind ebenso eng definiert wie massiv in ihrer Wirksamkeit. 1
Die Differenzierung von sozialem und biologischem Geschlecht hat in den letzten Jahren das Verständnis darüber erweitert, dass Geschlechterrollen weitgehend sozial bestimmt sind und sich innerhalb konkreter gesellschaftspolitischer und historischer Bedingtheiten herausbilden. Zugleich sind gender und sex ein in sich verwobenes systemisches Ganzes, das bei weitem nicht so bipolar und übergangslos ausgebildet ist, wie es heteronormative Rollenvorgaben zu vermitteln scheinen.
Mit Männlichkeit sind hier Männlichkeitsnormen gemeint, also Rollen, Normen, Muster, Vorstellungen. Im Unterschied dazu verweist MannSein auf die konkrete Lebenspraxis von uns Männern, mit den jeweiligen persönlichen und sozialen Erlebens- und Verhaltensweisen.
Traditionelle Männlichkeitsnormen sind dauerhaft und nachhaltig wirksam. Zugleich brachten die gesellschaftlichen Entwicklungen seit den 70er-Jahren Veränderungen der geschlechtsspezifischen Normen mit sich. Vielfältige Sozialräume und damit konnotierte Rollenerwartungen bestehen gleichzeitig nebeneinander, was sowohl zu Verunsicherung als auch zur Erweiterung des Spielraums für Lebensentwürfe geführt hat. In diesem Prozess besteht ein Veränderungen inhärenter Spannungsbogen zwischen liberalen Freiräumen, z.B. für vielfältige sexuelle Orientierungen und konservativen Gegenströmungen im Sinne des Festhaltens an eng gefassten Geschlechterrollen.
In meiner Praxis mache ich die Erfahrung, dass bei aller gesellschaftspolitischer Veränderung die basalen Muster traditioneller männlicher Sozialisation weiterhin wirksam sind. Die folgenden drei Aspekte davon habe ich wegen ihrer Relevanz für diesen Artikel exemplarisch ausgewählt:
1 - Systematische Desensibilisierung
Der zum Mann gemachte Mensch unserer Kultur ist einer,
der die Hälfte seiner selbst verloren hat.
Erziehung ist so angelegt,
dass der Mann seinen Körper wie seine Emotionalität als Gegner erfährt,
die er bezwingen und überwinden muss.
Jürgen Lott 2
Die geschlechtsspezifische Zurichtung von Jungen wird in der gesamten kritischen Männerliteratur beschrieben als Abhärtung von Körper und Seele, Trennung von Gefühl und Körper, Bewertung von Emotionen als Bedrohung und Schwächung (…).3 Jungen lernen sukzessive, Gefühle zu unterdrücken und sich so zu zeigen, wie sie es von erwachsenen Männern erfahren, als scheinbar frei von störenden Emotionen. Dieses Verhalten zeigt vordergründig Stärke und dient der Bestätigung der eigenen männlichen Identität - auch dann, wenn es den eigenen Bedürfnissen zuwiderläuft.
2- Externalisierung
Der Maßstab der Jungen orientiert sich in aller Regel
nicht an den eigenen Werten von Selbstzufriedenheit,
sondern bestimmt sich vornehmlich an vorgesetzten Außenbildern.
Bernd Drägestein 4
Als Junge bzw. zum Mann sozialisiert zu werden, beinhaltet, die Aufmerksamkeit vorwiegend auf das Außen zu richten. Dies entspricht auf gesellschaftlicher Ebene der Geschlechterteilung seit der Industriegesellschaft. Externalisierung meint, dass Verhaltensmuster und -ziele von Jungen und Männern sich primär auf äußere „Bereiche“ hin ausbilden. Insofern fällt die Verknüpfung von Lebenskultur, Lebensform und Konsum bei Männern auf fruchtbaren Boden, entspricht quasi ihrer Konzentration auf Veräußerlichung. Identität als Anpassung an Geschlechtsnormen wird nach Außen inszeniert - Ich bin was ich habe.
Damit befinden sich Jungen und Männer in einem Dilemma. Einerseits soll das männliche Selbst externalisiert werden, wodurch es zugleich fragiler wird. Hilflosigkeit, Angst, Scham, Unsicherheit werden nach Außen projiziert. Andererseits sind wir Männer der Moderne herausgefordert, im persönlichen Reifungsprozess genügend Autonomie im Sinne des Schweizer Psychoanalytikers Arno Gruen zu entwickeln. Dieser versteht unter Autonomie einen Zustand der Integration, in dem ein Mensch in voller Übereinstimmung mit seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen ist. Autonomie beinhaltet die Fähigkeit, ein Selbst zu haben, das auf den Zugang zu eigenen Gefühlen und Bedürfnissen gründet.5 Paradoxerweise führt gerade die Abspaltung eigener Emotionen und Schwächen dazu, dass Männer abhängig werden. Was der Mann an sich selbst nicht mehr wahrnehmen kann, sollen andere kompensieren.6
3 - Identität als Abgrenzung und Abwertung von allem „Weiblichen“
Mädchen und Jungen wachsen bis zum Ende der Grundschule in einer frauendominierten Alltagswelt auf. Ihre Bezugspersonen sind Frauen - Mütter, Kindergärtnerinnen, Volksschullehrerinnen, Kindergruppenerzieherinnen. Im Kleinkindalter sind Männer an der Erziehung nur am Rande beteiligt.
Für die Jungen hat dies zur Folge, dass ihnen vorrangig die Prinzipien und Lebensweisen der Weiblichkeit vorgestellt werden. Männer treten in dieser Welt meist als Ausnahmeerscheinung auf, als strafende Instanz, als Veranstalter spektakulärer Sonntagsausflüge, als Förderer von Aktion und Aggression, womit sie dem Jungen ein unrealistisches Bild vom hyperaktiven Mann präsentieren. Müde, frustrierte, traurige Männer ziehen sich zurück, hinter Zeitungen, in die Werkstatt, vor den Fernseher.
Jungen erfahren in diesen funktionalisierten Begegnungen wenig emotionalen Kontakt zum erwachsenen Mann, in der eigenen Kleinheit und Bedürftigkeit werden sie kaum anerkannt. Aufgrund der Abwesenheit der Männer erleben sie selten, was es heißt, ein erwachsener Mann zu sein, inklusive aller Stärken, Schwächen, der Erfolge und Kränkungen, die damit verbunden sind. Jungen erfahren kaum, wie es IN einem erwachsenen Mann aussieht, vermissen somit begreifbare Vorbilder, die Orientierung geben. Der Junge erlebt den Vater in Ausnahmesituationen, erschöpft nach einem harten Tag, am Wochenende, beim Ausflug, etc. Die alltäglichen Erfahrungen und Überforderungen eines erwachsenen Mannes, sein Alltagsgesicht kann er kaum sinnlich von ihm erfahren, seine Schwächen, die Monotonie am Arbeitsplatz, die Probleme im Beruf, die Kränkung durch Vorgesetzte, usw. Die Jungen bekommen deshalb die väterlichen Bewältigungsprobleme nicht mit, deren Erfahrung für eine alltägliche Geschlechtsidentifikation notwendig wäre.7
Die stillschweigenden Leitsätze, die dem Jungen durch diese Erlebenswelten vermittelt werden, lauten:
- Frauen und Kinder gehören zusammen.
- Männer und Kinder gehören nicht zusammen.
- Jungen sind für Männer uninteressant.
- Will ein Junge Kontakt zu Männern haben, sehnt er sich nach deren Nähe, darf er sich nicht wie ein Kind verhalten.8
Eine zentrale und prägende Einsicht eines Jungen ist jene, noch kein Mann zu sein, eine Einsicht darüber, was er nicht ist. Mädchen hingegen können sich selbst im Kontakt mit ihrer Mutter und anderen erwachsenen Frauen als kleine Frauen erleben. Den Buben fehlt im Gegensatz dazu die Erfahrung, dass Abweichungen von der Ideal-Norm des eigenen Geschlechts zur täglichen Erfahrung erwachsener Männer gehören. Jungen wissen lediglich, was sie nicht sein sollen: ein Mädchen, eine Frau. Also füllen sie das Orientierungsvakuum mit der Negativschablone der Anti-Frau, nach dem Motto: Verhalte ich mich nicht weiblich, dann muss es männlich sein – ganz im Sinne einer dualistischen Logik. Jungen lernen das verachten oder gar hassen, was aus ihrem Selbst kommt, da es sie hilflos macht, weil es ihnen von außen kulturell verwehrt wird.9 Abgewertet werden jene Eigenschaften, Emotionen, Verhaltensweisen und diverse Identitäten, die nicht ins heteronormative Schema passen. „Du Schwuler“ ist noch immer ein verbreitetes Schimpfwort unter Burschen, das in dieser Logik darauf abzielt, dem Angesprochenen die Männlichkeitsattribute abzusprechen.
Wenn danach gefragt wird, was Männlichkeit ausmacht, dann sind Männer und Burschen oft ratlos. Außer traditionellen übersteuerten Mustern wie offensiven Machoallüren, die viele auch ablehnen, fällt ihnen wenig ein. Nicht weil es an Intellekt oder Phantasie fehlt, sondern an konkretem persönlichen Erleben.
Männlichkeitsnormen produzieren ein Kollektives geschlechtsspezifisches Strukturgebundenes Erleben.
Kraftvolles, fürsorgliches und verletzliches Mannsein erfahren viele Buben nicht oder selten. Im Focusing ist Rede von der Wirksamkeit des Nichtvorhandenen, das maßgeblich zur Entwicklung von strukturgebundenem Erleben beiträgt, wenn lebendige Empfindungen und Bedürfnisse gestoppt werden.
Darunter bleibt eine verborgene, oft kaum mehr spürbare Sehnsucht nach persönlichem und authentischem Kontakt mit sich selbst und mit anderen Männern. Auf diese Sehnsucht können wir uns in der Männerberatung verlassen, bei unseren Klienten wie auch bei uns selbst – im Sinne einer tieferen Motivation die gestoppten Prozesse wieder aufzunehmen und die eigene Lebendigkeit zu nähren. Dies zeigt sich m.E. auch im vergleichsweise hohen Männeranteil in der Focusingseminaren. Das erstaunt insofern, als das meiste was wir in der Focusingtherapie lernen und machen, den beschriebenen Männlichkeitsnormen diametral entgegenläuft.
Wenn die Struktur wirkt, geht der Kontakt verloren.
Strukturgebundenes Erlebensmuster sind verhärtete und in sich abgeschlossene Erlebenssysteme. Markante Elemente des Männlichkeitsbezogenen strukturgebundenen Erlebens – ich verkürze es hier auf Männlichkeitsstruktur – habe ich oben beschrieben. Das Besondere daran ist das geschlechtlich Kollektive dieses Musters. So sehr Männlichkeitsstrukturen Kontakt zu sich selbst und zu anderen behindern, wirkt das sinnliche und reflexive Bewusstsein dieses Musters hingegen verbindend. Dieses geschlechtsspezifisch Gemeinsame lässt mich mein eigenes MannSein im StrukturErleben eines anderen Mannes wiedererkennen. In der Praxis erlebe ich dies als tiefen Seufzer der Erleichterung bei der Erkenntnis eines Mannes: Ich bin also nicht der Einzige dem es so geht….?. Das gegenseitige Zunicken mit einem Schmunzeln in den Augen gibt Antwort.
Wie bei strukturgebundenem Erleben generell ist es angebracht, sich diesem vom Funktionieren her anzunähern. Der steckengebliebene Prozess braucht einen Therapeuten mit Blick für das, was in der Struktur „funktioniert“.10 Männlichkeitsstrukturen sind überlebenswichtige Erlebensmuster die Sinn machen bzw. gemacht haben… und für uns Männer einen hohen Preis haben. Aufgrund der Externalisierungs- und Desensibilisierungsmechanismen erkennen Männer diesen Preis relativ spät, da emotionale und körperliche Warnsignale strukturimmanent nicht wahrgenommen werden (können). Die Folgen dieses Erlebens- und Verhaltensmusters werden oft erst bewusst, wenn eine Krise bereits eskaliert ist, also nach dem Herzinfarkt oder dem Auszug der Lebenspartnerin.
Der Denkmuskel, die nüchterne sachliche Herangehensweise wird innerhalb der Männlichkeitsstruktur gut trainiert. Diese Fähigkeit ist auch eine Ressource im Umgang mit strukturgebundenem Erleben. Es fördert die Möglichkeit, sich zu distanzieren sowie Überblick und Freiraum zu schaffen. Aus dieser Haltung heraus können Erlebensmuster erkannt und verstanden werden.
Focusingtherapie und Männerberatung ergänzen sich wechselseitig
Männerberatung und Focusing haben ein gemeinsames Ziel: die Verbesserung der Beziehung zu sich selbst und zu anderen. In der Gewaltberatung nach dem Hamburger Modell11 und der Männerberatung Innsbruck arbeiten wir Emotions-fokussiert und Verantwortungs-basiert. Das unterstützt Männer dabei, Konflikte gewaltfrei zu lösen und Krisen konstruktiv zu bewältigen. Wenn Veränderungsprozesse die eigene Lebendigkeit fördern sollen, braucht es Achtsamkeit und Mitgefühl mit den eigenen Bedürfnissen. Innerhalb der Dynamik der Männlichkeitsstruktur werden Gefühle jedoch abgewehrt und abgewertet, insbesondere Angst, Trauer, Scham, Unsicherheit. Wenn Männer nach ihren Empfindungen gefragt werden, reagieren viele erst mal irritiert, wechseln das Thema, verstummen, zeigen sich verärgert oder beschämt. Diese Impulse sind sekundäre Reaktionen auf verinnerlichte Abwertungsstrukturen, die originären Emotionen dahinter können zunächst kaum wahrgenommen werden. Veränderungsprozesse können jedoch nur durch das Zulassen und Erleben originärer Gefühle initiiert werden12.
An dieser Stelle erweitert Focusing die Handlungsoptionen in der Beratung. Die Anleitung dazu, die Aufmerksamkeit in den eigenen Körper zu lenken, eröffnet eine Tür zum inneren Erleben. Die unmittelbar erfahrbare Methodik und Körperorientierung des Focusing ermöglicht manchen Männern einen Zugang zu Ihren Empfindungen, der ihnen handfester und griffiger erscheint als die Frage nach ihren Emotionen. So erlebe ich regelmäßig, dass Klienten überrascht staunen über die Reichhaltigkeit ihres eigenen Erlebens, die zuvor von sich behauptet haben: Ich fühl da nix.
Emotionen sind physisch verwoben und verortet im Körper. Der felt sense den sie symbolisieren verweist darüber hinaus auf ein Ganzes einer Erfahrung und ermöglicht noch weitere Symbolisierungsqualitäten, die das Erlebensspektrum erweitern. Focusingtherapeutische Interventionen ermöglichen damit die Tiefung der Klienten im Kontakt zu sich selbst.
Das Männerberatungssetting und die Bereitschaft des Beraters, sich als role model persönlich begreifbar zu machen, eröffnen darüber hinaus einen geschützten Beziehungsraum. In diesem kann der Klient seine Kontaktgestaltung mit einem konkreten Anderen erproben und üben. Dabei erfährt er emotionale Resonanz und emphatische Konfrontation. Grundlegend dafür sind die Wertschätzung gegenüber allen Wahrnehmungen des Klienten und die klare Positionierung des Beraters bei grenzüberschreitendem Verhalten.
Stefan13, 61 Jahre, Baufacharbeiter, alleinstehend.
Er kam zu mir in die Männerberatung anlässlich seiner depressiven Symptome, er war lustlos, antriebslos, freudlos... Seit einigen Wochen war er im Krankenstand. Er wollte Unterstützung dabei möglichst schnell wieder fit zu sein für seinen Job und hat sich geschämt für seine „Schwäche“.
Bei unserem zweiten Termin nahm er mir gegenüber Platz und stieß zur Begrüßung mit seinem Fuß plötzlich meinen Fuß zur Seite. Ich war sehr überrascht und irritiert, hab durchgeatmet und ihm gesagt, dass ich das nicht mag. Stefan hat dies zunächst bagatellisiert und abgewertet,
d.h. belächelt und gemeint, ich sei aber sehr empfindlich, das wäre ja harmlos im Vergleich dazu wie‘s auf der Baustelle zugeht. Ich habe ihm bestätigt, dass ich tatsächlich auch empfindlich bin – in einem wertschätzenden Sinne – und nochmals klar gemacht, dass ich das nicht mag. Er hat es erst mal akzeptiert.
In der nächsten Stunde hat er wieder Platz genommen, mich angesehen und die Sitzung eröffnet mit: „Jetzt ist mir klar, warum ich depressiv geworden bin“. Ihm sei nach unserem letzten Treffen schmerzhaft bewusst geworden, wie sehr er seit vielen Jahren unter dem groben abschätzigen Umgangston in seiner Firma leide. „Ich habs immer runtergeschluckt, … und zurückgeschnauzt… und gelacht als obs mir wurscht wär… Das hat mich fertig gemacht. Ich konnte nicht mehr schlafen.“ In seiner Herkunftsfamilie wurde er von seinem Vater massiv entwertet und geschlagen. Dass ich „einfach so“ gesagt hätte, dass ich empfindsam sei, ohne ihn gleichzeitig verbal zu attackieren, so etwas habe er von einem Mann noch nie gehört.
Rückblickend war dies der zentrale Moment in der Beratung. Durch diese Erfahrung konnte er sich selbst seine eigenen Verletzungen erlauben. Im weiteren Prozess gings hauptsächlich darum, seinem Erleben Resonanz zu geben, die Empfindungen zu würdigen und ihn konsequent auf seine gewohnten Selbstabwertungen hinzuweisen. Die Qualität unseres Miteinanders war ab diesem Zeitpunkt respekt- und vertrauensvoll. In diesem vor Entwertungen geschützten Beziehungsrahmen entwickelte er rasch einen offenen Zugang zu seinem inneren Erleben.
Ein Jahr später. Stefan hat inzwischen seine Arbeit gekündigt. Er gönnte sich einen Aufenthalt in der Rehaklinik und ging in Frühpension. Wie sich herausstellte war er ein talentierter und begeisterter Fotograf. Als wir uns voneinander verabschiedet haben, hat er sich auf eine mehrwöchige Motorrad-Fototour vorbereitet, gemeinsam mit einem Bekannten, zu dem er gerade eine Freundschaft entwickelte. In der letzten Sitzung hat er mich gefragt: „Weißt Du noch, das mit dem Fuß damals….?“ – wir haben uns angesehen und gegrinst. In der Beratung hatten wir unterschiedliche Rollen inne. Als erwachsene Männer erkennen wir uns in unseren Gemeinsamkeiten.
Haltung ist gefragt
Die Basis für die Gestaltung der Kontaktraumqualität sowie die Auswahl und Umsetzung der Interventionen ist die Haltung des Beraters/Focusingtherapeuten. Vor dem Hintergrund meiner These, dass wir es mit einem männlichkeitsnormierenden Strukturgebundenen Erleben zu tun haben, ist es essenziell als Begleiter für den eigenen Freiraum im Sinne des Focusingkonzepts zu sorgen. Dies erlebe ich als bewusste Pendelbewegung, Haltung als Prozess des immer-wieder-Inne-Haltens. Mitfühlendes Wahrnehmen des inneren Erlebensraums, der subkutanen Sogwirkung des Strukturgebundenen. Der
geschützte Raum entsteht nicht aus der Abwehr der Phänomene, sondern durch das In Beziehung setzen zu ihnen, aufmerksam und in stimmiger Distanz. Die klare, feinfühlige und freundliche Präsenz des Beraters ist eine zentrale Bedingung für das Gelingen des Kontakts… und das stetige Gewahrsein, wenn diese verloren geht.
Aus der Perspektive der Männerberatung ist die selbstreflexive Erfahrung des eigenen Mann-Seins und -GewordenSeins erforderlich, ebenso wie die Bewusstheit über geschlechtsspezifische Dynamiken, ihre gesellschaftlichen Bedingungen und Wirkungen auf einzelne Männer. Neben der focusingtypischen Erlebensorientierung ist somit auch das Wissen um diese Mechanismen hilfreich. Kognitives Verstehen und Erkennen von kollektiven sozialen Prozessen und Wertesystemen unterstützt die Freiraumprozesse und schafft Verbindung, und damit eine Alternative zur erlernten männlichkeitsnormierenden Rivalisierung.
Eine fehlerfreundliche Einstellung aller,
die mit Jungen und Männern arbeiten,
ist eine wesentliche Voraussetzung dafür,
dass der Horizont eines gelingenden Junge- und Mannseins allmählich näher rückt.
Reinhard Winter 14
Bei der Gestaltung des Kontakt-Raumes von Mann zu Mann ist die Haltung des Beraters implizit wirksam. Der Freiraum des Beraters ist die Bedingung dafür, die eigenen geschlechtstypischen Strukturen zu erkennen, wenn sie wirksam werden. Auch nach vielen Jahren in der Männerberatung, oder gerade mit dieser Erfahrung merke ich bei mir selbst immer wieder die kontaktverhindernde Wirkung von Männlichkeitsstrukturen z.B. die Versuchung mich zu überheben oder meine Gefühle als peinliche Schwäche zu bewerten. Das Wahrnehmen von Männlichkeitsstrukturen unter Freiraumbedingungen ist eine Chance, dies auch als gemeinsames Erfahrungsmuster zu nutzen und miteinander dazu in Beziehung zu gehen.
Michael15, 41 Jahre, Grafikdesigner, verheiratet, Vater von 3 Kindern
Michael kommt zu mir in die Focusingpraxis, er erzählt von einem Familientreffen mit seinen Eltern, das er überraschend entspannt erlebt habe, er schildert es eloquent, humoristisch und wortreich.
Michael: …. Ich habe als Jugendlicher nie rebelliert, das wär nicht drin gewesen. Meine Frau hat mal gesagt: „Du konntest als Sohn nicht die Erfahrung machen, dass Du Dich mal unmöglich benimmst, und dennoch geliebt wirst.“….
Ich: (Resonanz: Anspannung im Kopf, Scham; Strukturgebundenes Erleben: „Emotionen sollen nicht bemerkt werden“, ich nehme mir Zeit um etwas Freiraum zu gewinnen; Responding: Trauer, Bedürfnis nach Zuwendung)
Moment bitte…. Wenn Du jetzt kurz Pause machst, durchatmest,….
Michael: (schließt die Augen)
Ich: Was geschieht in Dir, wenn Du hörst: „Du konntest als Sohn nicht die Erfahrung machen, dass Du Dich mal unmöglich benimmst, und dennoch geliebt wirst.“?
Michael: (öffnet die Augen, redet schnell). Ja das kenn ich schon aus meiner Therapie. Das hab ich vermisst , ….das fehlt mir sicher bis heute weils ja wichtig ist dass man in der Jugend auch mal rebellieren kann…. Und ich weiß ja warum das bei meinen Eltern nicht ging…. Die waren ja mit diesen Dingen überfordert und….
Ich: Moment mal…. Ich unterbrech Dich jetzt nochmal…. lass dir Zeit… gib die Frage nach Innen, lass sie reinsickern, … in Bauch, Brustraum. Was geschieht da drin….. jetzt…?
Michael: (Schließt die Augen)
(Pause) …. da ist…Trauer…. (öffnet die Augen, will weiterreden)
Ich: Moment mal….. bleib doch mal dabei…. Da ist was Trauriges.
Michael: (schließt die Augen …. Pause… weint)
[Sequenz: Verweilen beim Traurigen, Verorten im Körper, Symbolisieren]
Ich: Wie ist es hier zu sitzen und zu merken: da ist was Trauriges?
Michael: (zögert)…. Das ist jetzt …. Irgendwie schräg… komisch…. Ich weiß nicht ob du das verstehst…. Aber es tut richtig gut… obwohls traurig ist.
Haltung ringt mir immer wieder den Mut ab, das strukturgebundene Geschehen zu unterbrechen, nach Innen zu fragen. Aus dem Response heraus aktiv meinen Klienten zu stören, wenn die geschlechtstypischen Erlebens- und Verhaltensmuster wirken. Dieses Ringen um Kontakt bietet einen Kontrast zur Männlichkeitsstruktur. Durch die Begegnung hindurch kann das eigene lebendige MannSein erfahren und weiterentwickelt werden.
Hierzu exemplarisch einige Merkmale der genannten Haltung:
Männlichkeitsstruktur |
Beraterhaltung |
Die Dinge im Griff haben müssen |
Offene Aufmerksamkeit für das Geschehen |
Die Lösung kennen müssen |
Nicht wissen, was den nächsten Schritt ermöglicht |
Keine Schwächen haben/zeigen dürfen |
Die eigene Verletzlichkeit bemerken und annehmen |
Wissen wo’s lang geht |
Neugierig auf einen Prozess sein |
Rivalisieren |
Das Erleben wertschätzen |
Über Gefühle reden |
Fühlen |
Abwerten |
Würdigen |
Zuschlagen und verletzen |
Eigene Grenzen wahrnehmen und aktiv zeigen |
Entweder/Oder |
Sowohl als auch |
Was ist richtig/falsch? |
Was braucht´s? |
Schuld zuweisen |
Verantwortung für das eigene Erleben übernehmen |
Gegeneinander kämpfen |
Miteinander ringen |
Und was bleibt mir, wenn’s mich selbst erwischt…?
Mir selbst freundlich zulächeln, wenn ich wieder mal merke, dass die Männlichkeitsstruktur in mir aktiviert wurde. Und mich daran erinnern, dass wir unsere Verletzlichkeit, die Sehnsucht nach Kontakt und kraftvoller Lebendigkeit miteinander teilen.
Und meine Freundschaften pflegen.
Oder so.
Jürgen Allgäuer
Focusingtherapeut, Männerberater/Gewaltberater©, Klinische Suchtberatung
Erziehungswissenschafter, Diplomsozialarbeiter, Erlebnispädagoge
Jg. 1969, Innsbruck
www.praxisallgaeuer.at
1 Oelemann, Burkhard 2003, Über die Auswirkungen der Jungensozialisation in Schule und Gesellschaft. In: TatSachen. Informationszeitschrift über Gewaltberatung und Tätertherapie, S. 2-10. Hg: EUGET (Europäische Gesellschaft Gewaltberatung und Tätertherapie), Hamburg. S. 3
2 Lott, Jürgen zit. n. Arzt, Silvia 2000, Ist Gott eine Frau? In: Bieringer, Ingo; Buchacher, Walter; Forster, Edgar (Hg.): Männlichkeit und Gewalt. Konzepte für die Jungenarbeit. Leske + Budrich, Opladen, S. 174
3 Heiliger, Anita 2000, Zu Hintergründen und Grundsätzen einer antisexistischen Jungenarbeit. In: Bieringer, Ingo; Buchacher, Walter; Forster, Edgar (Hg.): Männlichkeit und Gewalt. Konzepte für die Jungenarbeit. Leske + Budrich, Opladen, S. 35
4 Drägestein, Bernd 2003, Der große Reiz. In: Waidhofer, Eduard (Hg.): kraftvoll und lebendig mann sein. Tyrolia-Verlag, Innsbruck-Wien, S. 149
5 Gruen, Arno 1986, zit.n. Böhnisch, Lothar & Winter, Reinhard 1993, Männliche Sozialisation. Bewältigungsprobleme männlicher Geschlechtsidentität im Lebenslauf. Juventa Verlag, Weinheim und München, S. 23
6 Vgl. Allgäuer, Jürgen, 2003, Männer im Kontakt, Kontaktgestaltung und Identitätsentwicklung von Männern, Diplomarbeit Institut für Erziehungswissenschaften, Universität Innsbruck.
7 Böhnisch, Lothar & Winter, Reinhard 1993, Männliche Sozialisation. Bewältigungsprobleme männlicher Geschlechtsidentität im Lebenslauf. Juventa Verlag, Weinheim und München S. 65
8 Oelemann, Burkhard 2003, Über die Auswirkungen der Jungensozialisation in Schule und Gesellschaft. In: TatSachen. Informationszeitschrift über Gewaltberatung und Tätertherapie, S. 2-10. Hg: EUGET (Europäische Gesellschaft Gewaltberatung und Tätertherapie), Hamburg S. 4
9 Böhnisch, Lothar & Winter, Reinhard 1993, Männliche Sozialisation. Bewältigungsprobleme männlicher Geschlechtsidentität im Lebenslauf. Juventa Verlag, Weinheim und München, S. 66
10 Renn, Klaus, 2016, Magische Momente der Veränderung, Kösel-Verlag München, S. 279
11 Gewaltberatung nach dem Hamburger Modell©, Institut Lempert
12 Lempert, Joachim, http://www.phaemo.com/weg/, 2022
13 Name geändert, J.A.
14 Winter, Reinhard; Neubauer, Gunter 2001, Dies und Das! Das Variablenmodell „balanciertes Junge- und Mannsein“ als Grundlage für die pädagogische Arbeit mit Jungen und Männern. Neuling Verlag, Tübingen.S. 59
15 Name geändert, J.A.
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