Einige Gedanken zur therapeutischen Haltung im Focusing
von Stefan Jooß
Henning Luther (1947 - 1991) gilt als einer der innovativsten und kritischsten Praktischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Gegen Ende seines Lebens setzt sich der an Levinas und Adorno Geschulte intensiv und schonungslos mit der (christlichen) Seelsorge auseinander. In einem Vortrag („Die Lügen der Tröster“[1]) drei Monate vor seinem Tod zeigt er auf, inwiefern sich Seelsorge (und Psychotherapie) der Verlogenheit schuldig machen, wenn sie darauf abzielen, dem an sich selbst und der Welt Verzweifelnden und Leidenden „Lebenssinn wieder zugänglich“[2] machen zu wollen: „Trost wird da zur Lüge, wo Sinn suggeriert wird und jeder Anflug eines Verdachts der Unsinnigkeit und Sinnlosigkeit unserer Lebensverhältnisse tabuisiert und verdrängt wird“[3], schreibt er und erinnert an Hiob. Dieser bescheinigt seinen wohlmeinenden Freunden, die ihn trotz der offenkundigen Sinnlosigkeit seines Elends vom guten Sinn des Lebens überzeugen wollen: „Ihr seid allzumal leidige Tröster“[4]. – Leidige Tröster vergrößern das Leid noch zusätzlich, weil sie dem Leidenden zusätzlich zu seinem Schmerz noch eine Deutung aufbürden, die zu seiner Erfahrung gerade nicht passt. Dann nämlich bleibt der Leidende in seinem Leiden unverstanden – und damit erst recht allein.
Demgegenüber plädiert Luther für einen mutigen und aufrichtigen Blick hinter die „Fassaden“[5] der Welt, in der wir leben: „Könnte es nicht sein, dass die Rationalität unserer vorherrschenden Lebensweise und unserer gesellschaftlichen Ordnungen im Grunde Produktionen des Wahnsinns sind?“[6], fragt er. Denn dass es mit dieser Welt, in der auch heute noch (30 Jahre später) Kriege geführt werden, Folterungen an der Tagesordnung sind, Millionen Menschen ausgebeutet werden, Andersdenkende und -lebende verfolgt, bedroht und umgebracht werden, nicht zum Guten bestellt ist, kann keinem Menschen, der noch bei Verstand und menschlich zu fühlen in der Lage ist, verborgen bleiben. – Unsere Welt macht es schwer, ernsthaft und aufrichtig von Sinn zu sprechen, dagegen fällt es leicht zu konstatieren: sie ist in einem trostlosen Zustand!
Tröstlich sein kann da allein „die Befreiung, nicht länger lügen zu müssen, nichts länger beschönigen und verteidigen zu müssen“[7]. Für Hiob wäre es tröstlich gewesen, wenn seine Freunde seine Klage angehört und ertragen hätten („Ertragt mich, dass ich rede…“[8] fordert er von ihnen). – Trost liegt „in der Bereitschaft, die Verzweiflung und die Klage – unzensiert – anzuhören und sie nicht zu hemmen“[9], schreibt Henning Luther.
Dafür braucht es eine (therapeutische) Grundhaltung, die ich in Henning Luthers eingangs zitierter Formel brennglasartig verdichtet finde: „Frech achtet die Liebe das Kleine“. Auch wenn diese Sentenz aus einem anderen Zusammenhang entnommen ist[10], bringt sie eine Haltung auf den Punkt, die mir in meinem Selbstverständnis als Focusing-Therapeut bedeutsam geworden ist. In diesem Satz wirkt seine Mahnung, mich als Seelsorger und Therapeut nicht zu überheben, „demütig“ zu bleiben im ursprünglichen Wortsinn: diomuoti, von althochdeutsch dionon; dio (= Knecht) und muot (= Mut; auch: Sinn, Seele, Geist, Gemüt, Kraft des Denkens, Empfindens, Wollens) – also eigentlich: ein mit allen Spür- und Geisteskräften (dem Anderen) mutig Dienender.
Was braucht es für diese Haltung?
1. Frechheit
„Frechsein“ ist im allgemeinen Verständnis meist negativ konnotiert: Wer frech ist, tritt dem Anderen zu nahe, er neigt zu Unverschämtheit und Vorwitzigkeit, verhält sich gerade nicht demütig, sondern vielmehr hochmütig und macht sich auf Kosten anderer lustig. Kurz: er verhält sich respektlos[11]. – Es wird häufig außer Acht gelassen, dass Respektlosigkeit aber auch eine Spielart von „Demut“ sein kann. Immer dann nämlich, wenn sie uns vor falschem Respekt, etwa vermeintlichen Autoritäten gegenüber oder auch gegenüber schwer Leidenden, bewahrt. Falscher Respekt verleitet uns dazu, mutlos und untätig zu bleiben – also gerade nicht „mutig Dienende“ zu sein. Im äußersten Fall kann das dazu führen, dass mein Klient eine ganze Sitzung lang redet, weil ich mich nicht traue, ihn zu unterbrechen. „Therapeuten jedoch sind ohne die Fähigkeit, den Redefluss der Klienten unterbrechen zu können, keine Therapeuten“[12], stellt Klaus Renn klar. Er ist es auch, der im Focusing-Kontext nicht müde wird, der „Haltung der Respektlosigkeit“ zu ihrem demütigen Recht zu verhelfen, wenn er paraphrasiert: „Respekt – und los!“ [13] In dieser Formel ist ziemlich genau die (therapeutische) Haltung abgebildet, die den „mutig Dienenden“ ausmacht: Er stellt sich mit allen seinen Spür- und Geisteskräften und mit seinem eigenen inneren Erleben unerschrocken und neugierig dem respektierten Anderen zur Verfügung, um ihm auf heilsame Weise dienen zu können. Das altgriechische Wort therapeuein bedeutet genau das: „heilen und dienen“.
In der griechischen Mythologie ist Hermes, der geflügelte Götterbote, als „Gott der Frechheit“[14] für das Transitwesen zuständig. Ein gewitzter Ermöglicher des Übergangs vom einen zum andern: Verkehrsbetriebe und Reiseagenturen gehören ebenso zu seiner Klientel wie Diebe und Kaufleute. Aber er hat auch seriösere Aufgaben: Der Mythologie zufolge geleitet er die Verstorbenen auf ihrer letzten Reise zum Totengericht. Und, seine bedeutendste Funktion, er übermittelt die Botschaften der Unsterblichen an die Sterblichen, indem er sie ihnen über-setzt. Damit sind seine Botschaften nicht nur Mitteilungen, sondern kommunikative Akte: sie sollen von den Empfängern verstanden und eingesehen werden können. Darum ist auch die „Wissenschaft vom Erklären und Verstehen“ nach ihm benannt: die Hermeneutik.
Therapeutische Arbeit ist hermeneutische Arbeit. Ich will meiner Klientin im Focusing-Prozess als „mutiger Diener“ so nahekommen, dass ich etwas von dem verstehen kann, was in ihrem inneren Erleben geschieht. Denn das wird von unseren Klienten als heilsam erlebt: wenn wir sie so verstehen, dass sie sich im Ereignis unseres Verstehens selbst besser verstehen können. Damit sich das ereignen kann, braucht es die Frechheit:
Es braucht die Zu-Mutung, einem anderen Menschen nahezutreten. Das wird besonders deutlich, wenn ich ihm aus meiner Resonanz heraus einen Response gebe. Da muss ich bereit sein, mich zum Narren zu machen, mich mit meinem eigenen Erleben auszusetzen und die Reaktion des Anderen zu gewärtigen. Die ist freilich unvorhersehbar und kann vieles hervorbringen: Zustimmung, Erheiterung, Empörung. „Wenn der Therapeut nicht transparenter, weniger verletzlich und offener ist als alle anderen Personen im Leben des Klienten“, mahnt Gendlin, „und er dem Klienten nicht erlaubt, das zu sehen, was er in ihm anrührt, dann wird es dem Klienten auch nicht möglich, mehr oder anders als bisher zu erleben“[15]. Der freche Therapeut macht sich angreifbar – und wird darin als berührbar erlebt.
Es braucht zudem die Neugier (im Altdeutschen bedeutet frech so viel wie „begierig“) auf das, was der Andere denkt und fühlt – und warum er so denkt und fühlt. Anders ist wirkliche Ein-Fühlung und ehrliches Mit-fühlen ja gar nicht vorstellbar, als dass ich mich mit neugierigem Forschergeist in die innere Welt des Anderen vorwage.
Und es braucht die Übersetzungsarbeit, damit sein Denken in meinem Verstand, sein Fühlen in meinem Mit-Gefühl eine Resonanz erzeugen kann. Wenn wir im Saying back dem Anderen das zurücksagen, was wir von ihm meinen verstanden zu haben, überprüfen (und korrigieren) wir damit zugleich unsere eigene Übersetzung. Das kann zuweilen zu sehr witzigen und produktiven Missverständnissen führen, die den Kontakt zwischen uns vertiefen[16] – und das ist ganz in Hermes‘ Sinn, denn die witzigen Missverständnisse gehören ebenfalls zu seinem Aufgabenbereich.
2. Achtung
„Achten“ hat drei Bedeutungsebenen, die in unserem Zusammenhang gleichermaßen bedeutsam sind[17]: Am wenigsten gebräuchlich ist heutzutage die Bedeutung: „denken, meinen“. Sie schwingt aber im Konnotationsfeld mit und gibt präzise die Richtung des Begriffs vor. Wenn ich den Anderen „achte“, denke ich an ihn, ich meine ihn. Ja mehr noch: ich denke ihn in meinen Überlegungen mit oder sogar noch weitergehend: ich denke mit den Gedanken des Anderen. Das ist genau die komplexe Erfahrung, die ich beim Begleiten eines Focusing-Prozesses machen kann, wenn ich wirklich bereit bin, mich in den Dienst des Anderen zu stellen.
Daraus ergibt sich gleichsam von selbst die zweite Bedeutung, die uns geläufig ist: „auf etwas oder jemanden aufpassen; seine Aufmerksamkeit auf etwas oder jemanden richten“. In der therapeutischen Situation stelle ich dem Anderen meine ganze Präsenz und Konzentration zur Verfügung. Fürsorglich passe ich auf, den Rahmen zu halten, ich registriere sorgfältig kleinste Veränderungen, bin aufmerksam auf unser Beider Freiraum. Gendlin weist ausdrücklich darauf hin, dass mir mein methodisches Wissen dafür nützen kann: „Jede therapeutische Methode hilft uns, mehr zu bemerken. Mit jeder Methode, die wir kennen, fallen uns andere Aspekte des Ganzen auf. … Ich bin dafür, andere Methoden und Konzepte zu verwenden und zu kombinieren auf der Basis, dass wir bemerken, dass wir sensitiv sind für diese Dinge als Möglichkeiten.“ Unter einer Voraussetzung: „Die Person muss immer wichtiger sein als jede Methode.“[18] Mein Anspruch ist es (und der ist von der Wirklichkeit nicht selten weit entfernt, wie ich in jeder Supervisionssitzung erleben kann), den Anderen mit allem Wesentlichen, das im Therapieraum geschieht, in meinem Gewahrsein zu halten.
Bin ich so mit dem Anderen verbunden, schließt sich die gängige moralische Bedeutung des Begriffs „achten“ bündig an: „jemanden oder etwas schätzen; Achtung vor jemandem oder etwas haben; jemanden oder etwas respektieren“. Hier schließt sich der Kreis zur Frechheit: den Anderen „achten“ betont die Respekt-Seite der „Respekt-losigkeit“. Schiller hat darauf hingewiesen, dass das Gefühl der Achtung für den Anderen von der Anerkenntnis von dessen „Würde“[19] unzertrennlich sei. Das halte ich für einen wesentlichen Aspekt auch für die therapeutische Haltung: Das „-los“ der Respekt-losigkeit hat seine klaren Grenzen da, wo die Würde meines Klienten berührt ist. „Response geht nur in einer wertschätzenden und emotional annehmenden Haltung.“[20] Da bin ich als therapeutischer Begleiter zu allerhöchster Wachsamkeit, Aufmerksamkeit und gewissenhafter Sorgfalt gegenüber dem Anderen verpflichtet (die lat. Begriffe für „Achtung“ entsprechen dem: attentio oder observatio), weil der Grat zur Beschämung sehr schmal sein kann und die therapeutische Beziehung dann schweren Schaden erlitte.
3. Liebe
Mit der „Liebe“ betrete ich unsicheren Boden. Im doppelten Sinne. Zum einen ist das Terrain ihrer Bedeutung unübersichtlich: allein schon der einschlägige Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie umfasst 38 Spalten. Um wenigstens hier gleich eine gewisse (zugegebenermaßen holzschnittartige) Übersichtlichkeit herzustellen, möchte ich auf die klassische, antike Unterscheidung verweisen, nach der die Liebe in zwei Formen erscheint: als agape und eros. Die agape bezeichnet die einheitsstiftenden Beziehungen zwischen beseelten Wesen (im weitesten Sinne) und ist diesbezüglich mit der „Freundschaft“ verwandt. Hingegen beschreibt der eros die empfundene Kraft, die auf die konkrete (sexuelle) Vereinigung hinwirkt und dementsprechend mit dem „Begehren“ und „Verlangen“ verwandt ist. Selbstredend ist diese klassische Unterscheidung künstlich, denn der eros durchdringt alles, das liegt in seiner Natur, folglich auch die agape. Dennoch will ich mich für die folgenden Überlegungen an die agape halten, im Wissen darum, den eros nicht gänzlich ausschließen zu können (wer könnte das schon!). Die Therapiegeschichte strotzt von missbräuchlichen Akten im Gefolge des Eros und seine Kraft wirkt selbstverständlich in allen (auch therapeutischen) Beziehungen.
Das Lieben im Sinne der agape ist nun zum andern selbst eine schwankende Angelegenheit. Nietzsche hat vielleicht am unverblümtesten die Ambivalenz offengelegt, die in der agape liegt: Sie „besteht in einem beiderseitigen Selbstsein, das im Freunde auch den Gegner und Feind sieht und das im Blick auf das mögliche Maß der Freundschaft auch die große Verachtung einschließt“[21]. Damit ist der schwankende Grund der agape, auf dem wir uns in der therapeutischen Beziehung bewegen müssen, ohne falsche Sentimentalität klar markiert. Wie aber entsteht diese Ambivalenz?
Eine plausible Antwort liefert erst Husserl, der feststellt: Das Problem der Liebe besteht vor allem in dem Widerspruch, dass „Liebe“ zwar ausgehend vom intentionalen Akt eines Einzelnen begriffen wird, die Einseitigkeit des Selbst (das diesen Akt hervorbringt) dabei aber zugleich zugunsten einer Wechselseitigkeit überwunden werden soll. Mit anderen Worten: Im Lieben richte ich mich absichtsvoll auf den Anderen hin aus, um mit ihm eine „einheitsstiftende Beziehung“ einzugehen. Zugleich soll der Andere aber nicht Gegenstand meiner Beziehungsabsicht sein, weil dadurch ein Gefälle zwischen uns bestehen bleibt. – Man muss es klar sagen: aus dieser Ambivalenz kommen wir als liebende Mitmenschen, zumal in der therapeutischen Situation, nicht heraus. Denn schon das therapeutische Setting zieht ein strukturelles Gefälle zwischen mir und meinem Klienten ein. Das beginnt bereits damit, dass er mich aufsuchen muss. Es setzt sich fort in der Tatsache, dass die therapeutische Sitzung begrenzt ist und diese Begrenzung von mir verantwortet und durchgesetzt wird. Es geht damit weiter, dass ich für meine Bemühungen Geld vom Klienten verlange. Und so könnte ich weitermachen. Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Begegnung zwischen dem Therapeuten und seinem Klienten ihrem Wesen nach asymmetrisch ist.[22] Und auch innerhalb dieses Settings besteht die Asymmetrie fort, und zwar gerade in der Art der ‚Liebes-Beziehung‘ zwischen Therapeut und Klient. Denn nur ich als Therapeut kann und muss mir vornehmen, dem Klienten liebend zu begegnen. Das gehört zu meinem therapeutischen Ethos (und dafür werde ich letztlich bezahlt). Der Klient muss das nicht. Ob dann aus meiner liebenden Initiative überhaupt eine Wechselseitigkeit entsteht, hängt maßgeblich davon ab, ob mein Klient den absichtslosen Raum, den ich ihm eröffne, betreten kann und will.
Husserl hat jedoch nicht nur das Problem geschärft, sondern auch einem möglichen Umgang mit dieser ambivalenten „Liebe“ den Weg gewiesen. Für ihn ist „die ‚Einfühlung‘ … der ausgezeichnete Weg, durch wechselseitige Wahrnehmung unserer Leiber des anderen nicht nur erkennend gewahr zu werden, sondern auch personal mit ihm zu leben“[23]. Damit ist der Sache nach beschrieben, was Klaus Renn als eine „Haltung der Absichtslosigkeit“[24] charakterisiert, die den Focusing-Prozess als Ganzen zu tragen hat. Als Therapeut will ich zwar sehr wohl eine Beziehung zu meiner Klientin herstellen – und bin darin keineswegs absichtslos. Aber in der konkreten Beziehung bemühe ich mich darum, nichts oder zumindest nichts Bestimmtes von ihr zu wollen, sondern ihrer gewahr zu werden – darin will ich also unbedingt absichtslos sein. Deshalb bemühe ich mich darum, sie mit größtmöglichem Einfühlungsvermögen (Empathie) als ganzen Organismus (also leib-seelisch oder psycho-physisch) so wahrzunehmen, dass sie sich erkennbar frei in ihrem eigenen Prozess bewegen kann (bedingungslose Wertschätzung) und ich für eine bestimmte Zeit mit ihr diesen Lebensprozess mit(er)lebe (Kongruenz). Wenn diese absichtslose Beziehung (im Sinne der drei therapeutischen Basisvariablen nach Rogers) wirklich gelingt und sicher ist, können wir beide die Erfahrung machen, dass wir momentweise das erreichen, was Husserl als Verpflichtung der Liebe zuschreibt: nämlich „dem anderen zu seinem wahren Selbst [zu] verhelfen“[25].
Damit freilich ist etwas radikal anderes von mir gefordert, als eine „liebevolle Beziehung“ zu meinem Klienten herzustellen (von deren süßlichem Gout viele Therapieräume kontaminiert sind). Denn „Kontakt ist keine Verschmelzung, ganz im Gegenteil: Er ist die deutliche Realitätsempfindung der Präsenz eines anderen Menschen als eines anderen Lebewesens.“[26] Ich muss also bereit sein, aus unbedingter Liebesbereitschaft gegenüber meinem Klienten – und im Bewusstsein des strukturellen Gefälles zwischen uns –, einen sicheren Beziehungsraum zu öffnen und (missbrauchsfrei) zu halten, in dem wir beide uns als Ich-Selbst erleben können – verbunden mit allen möglichen (und unmöglichen) Beziehungserfahrungen, die das für uns beide mit sich bringen kann. Deren extremste Gestalten hat Nietzsche klar benannt: dass ich im Freunde auch den Gegner und Feind erfahren und Freundschaft auch Verachtung einschließen kann – und der Raum unserer Begegnung dennoch sicher bleibt! [27] Wie kann das gehen? – Gendlin gibt einen entscheidenden Hinweis: „Die Person, die im Klienten oder in der Klientin drin ist, diese Person, die dort drin wohnt, die kann man immer positiv fühlen. … Wenn ich auf den Inhalt reagieren muss, kann ich nicht immer positiv sein. Denn der Inhalt ist oft ziemlich mies. … Wenn man den Unterschied zwischen den Inhalten, die jemand erzählt, und der Person, die diese Inhalte hat, einmal kennt, kann man den Menschen immer positiv fühlen, … der da drinnen irgendwie versucht, ein Leben zu führen.“[28] – Darin muss sich die agape bewähren.
4. Das Kleine
Nach langem Anlauf komme ich jetzt zum unscheinbaren Ende und eigentlichen Ziel meiner Überlegungen: dem „Kleinen“. Alles bisher Ausgeführte hat nur die Voraussetzungen beschrieben, die erfüllt sein müssen, damit ich diesem unscheinbaren „Kleinen“ überhaupt begegnen kann. Ich will sie hier nochmal kurz zusammenfassen:
Ich muss, erstens, bereit sein, den großen gesellschaftlichen Kontext im Blick zu behalten, also hinter die Fassaden dieser Welt zu blicken und das existentielle Elend anzuerkennen, aus dem das meiste individuelle Leiden, dem ich dann in der Therapiepraxis begegne, resultiert. Nur dann kann sich das einzelne Kleine abzeichnen.
Zweitens brauche ich genügend Frechheit, um als mutig Dienender so respekt-los zu sein, dass ich dem Anderen gewitzt nahetreten will. Damit ich so viel (nicht alles) von ihm verstehen kann, dass Resonanz zwischen uns entsteht. Nur so lässt sich das Kleine hervorlocken.
Ohne, drittens, Achtung läuft die Frechheit jedoch Gefahr, unaufmerksam, gewissenlos und geringschätzig zu werden. Dann komme ich dem Anderen zu nahe und das Kleine zieht sich erschrocken zurück.
Und viertens ist ohne die Liebe alles nichts.[29] Nur wenn es mir gelingt, dem Anderen einen sicheren, absichtslosen Raum zu öffnen, in dem eine aufrichtige wechselseitige Selbsterfahrung stattfindet, kann sich das Kleine zeigen und in Bewegung setzen – und ich mich von ihm berühren lassen.
Das Kleine – es ist für mich die relevante Größe in einem Focusing-Prozess. Mir ist keine andere Therapieform bekannt, die sich mit weniger zufriedengeben würde. Im Focusing aber sind es gerade diese ganz kleinen, kaum wahrnehmbaren Bewegungen am Rande eines Felt Sense, die zu entscheidenden und vor allem nachhaltigen Veränderungen im Erleben der Klientin beitragen können. „Der Rand des Erlebens ist der Ort, an dem Neues auftaucht, Veränderung geschieht – die Wachtumszone des Lebens“.[30] Für einen ungeduldigen Menschen wie mich stellt es eine große Herausforderung dar, geduldig (und absichtslos!) bei dem inneren Erlebensprozess meiner Klientin zu bleiben und mit aller Hingabe und Aufmerksamkeit den kleinen Bewegungen zu folgen, die ein tieferer Atemzug mit sich bringt oder ein feines Zittern des kleinen Fingers oder ein Flattern der Augenlider. „Verglichen mit dem, was wir gewöhnlich denken und fühlen können, ist das was vom körperlich empfundenen Rand des Bewusstseins kommt, charakteristischerweise komplizierter und vielschichtiger, und doch auch offener für neue Möglichkeiten.“[31] – Einfach erstmal dabeizubleiben, ohne immer schon verstehen zu wollen (v.a. um mich sicher zu fühlen), Deutungsangebote zu machen oder Handlungsmöglichkeiten vorzuschlagen.[32] Wenn ich das wirklich schaffe, die Bewegung zu markieren und dann nur abzuwarten, wie der Prozess weitergeht, kann es geschehen, dass sich ein neues, überraschendes Erleben öffnet, das in meiner Klientin groß wird und ihr frische, wesentliche Erfahrungen bringt. – Sternstunden, die meine Geduld belohnen.
Ganz ähnlich verhält es sich mit der kleinschrittigen Suche meines Klienten nach den passenden Worten für das, was sich in seinem inneren Erleben gerade jetzt ereignet. „Daran merken wir, dass das, was noch nicht ausgesprochen ist, genauer ist als das, was man aussprechen kann.“[33] Ich muss mich beherrschen, um das Stammeln und Stottern, das vorsichtige Vor und Zurück, Ausprobieren und Verkosten von Wortbruchstücken nicht (vorschnell) in eine Formulierung zu gießen, die mein Bedürfnis nach Verständnis und Sinn, mein Bedürfnis nach den großen Zusammenhängen, befriedigt – und mich zu einem „leidigen Tröster“ (s.o.) macht.
Das Kleine, das sich im inneren Erleben meiner Klientin ereignet, verträgt keine (Sinn-) Zuschreibungen von außen. Ganz im Gegenteil, sagt Gendlin: „Ihr müsst die kleinen Schritte gut erkennen. Ein kleiner Schritt ist etwas Neues, von dem du noch nicht weißt, was es ist. Es ist aber ganz konkret da, spürbar in deinem Körper.“[34] Das Kleine muss sich aus sich heraus entfalten können, in unterschiedliche Symbolisierungen schlüpfen und wieder daraus verschwinden, durch verschiedene Erlebensmodalitäten huschen und wieder ins Erlebensganze zurücksinken können, frei von Verstand und Fassbarkeit. „Das Gemeinte ist immer komplizierter, subtiler als das, was immer diese ganze Wort-Serie meint, als die Begriffe und die begrifflichen Strategien, die wir haben.“[35] Alle Interventionen, ob Freiraumfürsorge, Listening oder Guiding, müssen deshalb in allererster Linie der Freiheit des Kleinen dienen und ihm erlauben, sich zu bewegen, sich zu verändern, zu zeigen und zu verbergen, ganz unabhängig von jedem greifbaren Sinn. – Das Kleine darf unsinnig bleiben! Und vielleicht vermag es gerade dadurch eine Spur ins Erleben meiner Klientin zu legen, die einen irritierenden Unterschied macht und womöglich erst zu einer späteren Stunde und an anderem Ort ihre Wirkung entfaltet. Was weiß ich schon davon?
Die in diesem Text entwickelte Haltung, ein „mutig Dienender“ des Kleinen zu sein, bedeutet für mich immer wieder, mir genau diese Frage zu stellen: Was weiß ich schon davon? – Und die damit verbundene irritierende und verunsichernde Zumutung auszuhalten: Es könnte alles auch ganz anders sein.
Denn Trost liegt, frei nach Henning Luther, in der Bereitschaft, das, was sich bemerkbar macht – unzensiert – wahrzunehmen und es nicht zu hemmen. „Wenn wir nicht versuchen, irgendetwas zu verbessern oder zu verändern, wenn wir nichts hinzufügen, wenn wir, gleich wie schrecklich etwas ist, nur sagen, dass wir genau verstehen, zeigen diese Reaktionen unsere Präsenz und helfen dem Klienten, bei dem zu bleiben, was er in dem Moment spürt und fühlt, und sich tiefer darauf einzulassen. Das ist vielleicht das Wichtigste, was jeder wissen muss, der anderen hilft.“[36] –
Frech achte die Liebe das Kleine!
Fußnoten
[1] Henning Luther, Die Lügen der Tröster. Das Beunruhigende des Glaubens als Herausforderung für die Seelsorge, in: Praktische Theologie 33 (1998), 163-176
[2] A.a.O., 166
[3] A.a.O., 166f.
[4] Hi 16,2
[5] Henning Luther, Die Lügen der Tröster, 164
[6] A.a.O., 166
[7] A.a.O., 170
[8] Hi 21,3f.
[9] Henning Luther, Die Lügen der Tröster, 171
[10] Es handelt sich um den Titel eines Predigtbandes: Henning Luther, Frech achtet die Liebe das Kleine. Biblische Texte in Szene setzen. Spätmoderne Predigten, Stuttgart 22008
[11] „Unter einer Frechheit wird im allgemeinen Sprachgebrauch eine Respektlosigkeit verstanden. Dazu zählt vor allem anmaßendes und unverschämtes Benehmen.“ In: Art. „Frechheit“, https://de.wikipedia.org/wiki/Frechheit
[12] Klaus Renn, Magische Momente der Veränderung. Was Focusing bewirken kann. Eine Einführung, München 2016, 145
[13] „Was so viel bedeutet wie: zuerst Respekt vor dem Klienten und dessen ganz eigener Art des Erlebens und dann ‚los‘ in die Beziehung zu ihm.“ A.a.O., 242
[14] Sten Nadolny, Ein Gott der Frechheit, München 1996
[15] Eugene T. Gendlin, The Experiential Response, zitiert nach Klaus Renn, Magische Momente der Veränderung. Was Focusing bewirken kann. Eine Einführung, München 2016, 242
[16] „Kontakt umfasst den frischen Eindruck des Andersseins und der Abgegrenztheit des anderen. Wir können die Momente der Überraschung willkommen heißen und genießen. Derartige Augenblicke zerstreuen Projektionen und zeigen, dass man mit dem tatsächlichen Menschen in Berührung ist.“ Eugene T. Gendlin, Focusing-orientierte Psychotherapie. Ein Handbuch der erlebensbezogenen Methode, Stuttgart 42018, 447
[17] Vgl. Art. „Achten“, DWDS, https://www.dwds.de/wb/achten
[18] Eugene T. Gendlin / Johannes Wiltschko, Focusing in der Praxis. Eine schulenübergreifende Methode für Psychotherapie und Alltag, Stuttgart 62016, 45f.
[19] Art. „Achtung“, HWPh 1, Sp. 75, Darmstadt 1971
[20] Klaus Renn, Magische Momente der Veränderung. Was Focusing bewirken kann. Eine Einführung, München 2016, 242f.
[21] Art. „Liebe“, HWPh 5, 319
[22] Wobei die Asymmetrien nicht immer in der gleichen Richtung verlaufen, was an dieser Stelle nur markiert, aber nicht ausgeführt werden kann.
[23] Art. „Liebe“, HWPh 5, 325
[24] Klaus Renn, Magische Momente der Veränderung. Was Focusing bewirken kann. Eine Einführung, München 2016, 30f.
[25] Art. „Liebe“, HWPh 5,325
[26] Eugene T. Gendlin, Focusing-orientierte Psychotherapie. Ein Handbuch der erlebensbezogenen Methode, Stuttgart 42018, 447
[27] Vgl. a.a.O., 445ff.
[28] Eugene T. Gendlin / Johannes Wiltschko, Focusing in der Praxis. Eine schulenübergreifende Methode für Psychotherapie und Alltag, Stuttgart 62016, 43
[29] 1 Kor 13
[30] Johannes Wiltschko und Klaus Renn, Vorwort zur deutschen Ausgabe, in: Eugene T. Gendlin, Focusing-orientierte Psychotherapie. Ein Handbuch der erlebensbezogenen Methode, Stuttgart 42018, 7
[31] Eugene T. Gendlin, Focusing-orientierte Psychotherapie. Ein Handbuch der erlebensbezogenen Methode, Stuttgart 42018, 12
[32] „Ich schlage meine Ideen daher lieber erst dann vor, wenn es schon zu spät ist, damit zuerst Gelegenheit ist zu sehen, was vom Klienten kommt“, rät Gendlin, in: Eugene T. Gendlin / Johannes Wiltschko, Focusing in der Praxis. Eine schulenübergreifende Methode für Psychotherapie und Alltag, Stuttgart 62016, 48
[33] A.a.O., 81
[34] A.a.O., 20
[35] A.a.O., 88
[36] Eugene T. Gendlin, Focusing-orientierte Psychotherapie. Ein Handbuch der erlebensbezogenen Methode, Stuttgart 42018, 25
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