• +49 931 411368
  • Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Der Focusing-Blog

Sonnenuntergang über dem Meer

Ich in Bewegung mit mir

Ein Beitrag von Nicola Schomacker

Focusing im klinischen Alltag
In der Tagesklinik für Stressmedizin werden Menschen behandelt, die infolge von chronischem Stress an einer Depression oder Angststörung erkrankt sind.

Die Behandlung in der Tagesklinik für Stressmedizin verknüpft tiefenpsychologische und kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze mit der übenden Tradition der Achtsamkeit zu einem integrativen Behandlungskonzept. Die seelische Krise wird nicht als Defekt gesehen, sondern als ursprünglich gesunde Strategie, die sich gegen die eigene Gesundheit richtet. Achtsamkeit ist die Haltung, die hinter der Behandlung steht, und die wir mit den Patient:innen gemeinsam üben.

Auf der Station werden zwei Gruppen mit jeweils 10 Patient:innen für acht Wochen behandelt. Über den gesamten Zeitraum von acht Wochen bleiben die Patient:innen fest in einer Gruppe zusammen. Die Gruppentherapie steht während der Behandlung im Vordergrund und es finden wöchentlich zwei Achtsamkeitstherapiegruppen (u.a. Aspekte/Übungen aus dem MBSR, MBCT, MSC -Programm s.u., Focusing) und zwei Gesprächsgruppen (psychodynamisch und kognitiv-verhaltenstherapeutisch) für jeweils 100 Minuten statt. Alle zwei Wochen erhalten die Patient:innen ein Einzelgespräch. Weitere verbindliche Gruppenangebote sind die tgl. Morgenmeditation (25 Minuten), achtsame Körperübungen (Yoga, Qi Gong), Walken, achtsames Kochen, Ernährung, Plastizieren, Arbeitsmedizin, Vorträge in Anthropologie, Psychosomatik und Stressmedizin. Unser Team besteht aus einer therapeutischen Leiterin, Achtsamkeitstherapeut:innen, Pflegekräften, Psychologen/Psychologinnen, Ärzten/Ärztinnen, Bewegungs- und Ergotherapeut:innen. Das gesamte Team hat eine regelmäßige Meditationspraxis und meditiert u.a. am Morgen mit den Patient:innen zusammen.

In der Behandlung bildet sich die Alltagswelt jedes einzelnen Patienten im „Kleinen“ ab. Die Patient:innen kommen mit den Themen, die sie in die Krise gebracht haben, durch die Dynamik in der Gruppe wieder in Kontakt. Im ersten Behandlungsviertel steht zunächst die Linderung der akuten Symptome der Angst oder Depression im Vordergrund. Im weiteren Verlauf geht es darum, schädigende Automatismen (strukturgebundenes Verhalten) zu erkennen und an ihrer Stelle zu einem bewussten und entschiedenen Handeln zurückzukehren. Eine achtsame und mitfühlende Haltung unterstützt die Patient:innen dabei, ein Gleichgewicht zwischen Anforderungen und Ressourcen zu finden.

MBSR
MBSR – Mindfulness-Based Stress Reduction - auf Deutsch: „Stressbewältigung durch die Praxis der Achtsamkeit“ – wurde 1979 von Prof. Dr. Jon Kabat-Zinn und seinem Team an der Universitätsklinik von Massachusetts in den USA entwickelt. Inspiriert wurde Jon Kabat-Zinn durch seine eigene Praxis mit der Zen- und Vipassana Meditation und Yoga. MBSR ist ein achtwöchiges Selbsthilfeprogramm, welches komplementärmedizinisch (bei verschiedenen Krankheiten ergänzend zu anderen therapeutischen Verfahren) angewendet werden kann. Im Vordergrund steht die Übung der Achtsamkeit. In den Anfängen arbeitete Jon Kabat-Zinn mit Menschen, die an chronischen Schmerzen litten und im klinischen Sinne als „austherapiert“ galten. Im Verlauf der Behandlung lernten die Patient:innen mit ihren Schmerzen umzugehen, wodurch sich ihr Leid reduzierte und die Schmerzen zum Teil weniger wurden. MBSR ist weltweit das besterforschte Programm achtsamkeitsbasierter Ansätze.

Aus dem MBSR Programm sind weitere 8-Wochen Programme hervorgegangen:

  • MBCT - Mindfulness-Based Cognitive Therapy - auf Deutsch: „Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie“ zur Rückfallprophylaxe bei Depressionen, entwickelt von Zindel V. Segal, Mark Williams und John Teasdale.
  • MSC - Mindful Self-Compassion „Achtsames Selbstmitgefühl“ um die Fähigkeit für Selbstmitgefühl zu kultivieren, entwickelt von Kristin Neff und Christopher Germer. MSC vermittelt verschiedene Wege, die zu mehr Selbstmitgefühl im Alltag führen können.

Focusing im Gruppensetting in der Tagesklinik für Stressmedizin
Alle Therapeut:innen in der Tagesklinik starten die Gruppenangebote mit einer Minute der Gegenwärtigkeit, bei der die Aufmerksamkeit zum Körper/Atem gelenkt wird. Um Freiraum herzustellen, biete ich den Patient:innen an, vor der Minute ein/zwei tiefen Atemzügen zu nehmen und eine passende Sitzhaltung zu finden. Aus der Minute der Gegenwart heraus lade ich sie dazu ein, die Aufmerksamkeit nach Innen in die Körpermitte zum Brust- und Bauchraum zu richten und sich selbst die Frage zu stellen „Wie fühle ich mich gerade? Was entsteht aus der Körpermitte heraus?“. Vielleicht entsteht ein Bild, ein Gedanke, eine Körperempfindung oder ein Gefühl. Es entfaltet sich eine körperliche Resonanz zur Stimmung, ein Felt Sense, der auf individuelle Weise unterschiedlich antwortet. Im Anschluss berichten die Patient:innen vom eigenen inneren Erleben. Ich begleite sie in Mini Focusing Prozessen u.a. durch Saying Back, Markieren, Modalitätenwechsel, Gesten und/oder Selbstberührung, sodass sich der Felt Sense (weiter) entfalten kann. Durch das in Resonanz Gehen mit dem Patienten/der Patientin entsteht eine ganz besondere Verbindung. Ich bin in Beziehung zu mir und zum momentanen Erleben des Patienten/der Patientin. Klaus Renn nennt es „gemeinsam geteiltes Erleben“.

Zum Ende der Runde lade ich die Patient:innen nacheinander dazu ein, die Stimmung, den Felt Sense durch eine Bewegung oder Skulptur auszudrücken. Alle Patient:innen einschließlich meiner Person machen die Bewegung/Skulptur mit. Dabei entsteht in der Gruppe eine besondere Form der Verbundenheit, des Verständnisses, der Freude und Leichtigkeit. Dies wird von außen u.a. an leuchtenden Augen, weichen Gesichtszügen, Lachen oder Berührung deutlich. Die Patient:innen kommen mit lebendigen und stärkenden inneren Anteilen in Kontakt, die neu für sie sind.

Im Prozess mit den Patient:innen entscheide ich aus meinem Felt Sense heraus, wie tief ich einsteige: Was fühlt sich in dem Moment stimmig für mich an? Wie weit möchte ich gehen? Wie ist die Atmosphäre in der Gruppe? Die Menschen, die zu uns in die Behandlung kommen, sind häufig zu Beginn sehr weit von sich und ihrem Körper entfernt. Als ich in der Tagesklinik für Stressmedizin anfing zu arbeiten, war ich unsicher, ob die Patient:innen überhaupt Kontakt zu ihrer Körpermitte herstellen können und ob Focusing im klinischen Gruppensetting überhaupt möglich ist. Ich finde es erstaunlich, wie schnell bei den Patient:innen durch Focusing Kontakt zum inneren Erleben hergestellt werden kann. Zu Beginn der Behandlung erreiche ich nur einige von ihnen und zum Ende kann sich fast die ganze Gruppe einlassen.

In der Mitte der Behandlung - wenn sich die Rüstung der Patient:innen langsam öffnet - starten wir mit der Übung des Selbstmitgefühls. Da die Patient:innen mit alten Verletzungen in Berührung kommen, wird es nun wichtig, in kleinen Schritten voran zu gehen und Pausen einzulegen, um wieder Abstand herzustellen. Für Freiraum und frischen Wind sorgt „Der gute Ort“. Es ist berührend und eine Wohltat für sie, einen guten Ort im Körper oder im Außen aufzusuchen. Die meisten Patient:innen wählen einen Ort im Außen, der wiederum Resonanz im Körper auslöst. Wenn sie von ihren Erfahrungen berichten, werden die anderen Patient:innen quasi an den guten Ort mitgenommen und es entsteht eine starke Verbundenheit. Während die Patient:innen erzählen, begleite ich sie im erforschenden Gespräch und lade zum Verweilen und Auskosten der verschiedenen Körperempfindungen und Gefühle ein. Wenn die Patient:innen in den Übungen oder im Alltag mit schwierigen Gefühlen überflutet werden, können sie sich immer wieder mit dem guten Ort verbinden, um Freiraum herzustellen.

Nach den Gruppenübungen, wie u.a. der Body-Scan, die Sitzmeditation, Körperübungen, eine Übung zu angenehmen Erlebnissen, der gute Ort, die Selbstmitgefühlspause, die beruhigende Berührung, die Herzensgütemeditation, findet ein Erfahrungsaustausch in der Gruppe statt. Ich begleite die Patient:innen im erforschenden Gespräch und lasse dabei Elemente aus dem Focusing miteinfließen.

Über die letzten sieben Jahre habe ich mich immer häufiger getraut, Focusing-Elemente in die Gruppe zu bringen. Meine Beziehung zu mir und zu den Patient:innen hat sich dadurch entscheidend verändert. Ich fühle mich viel mehr mit mir und ihnen verbunden.

Beispiele für Mini Focusing Prozesse aus der Gruppe
Frau N. berichtet, sie sehe sich auf einer Blumenwiese stehen. Das Wetter sei etwas trist, am Ende der Wiese stehen zwei große Bäume und ganz besonders schön sei diese Weite, der weite Blick. Diese Weite betont Frau N. mehrfach und strahlt dabei. Ich frage Frau N., wo sie die Weite im Körper spürt. Frau N. antwortet, in der Brust. Ich lade Frau N. ein, ihre Hand auf die Brust zu legen und frage sie, wie sich die Berührung von innen anfühlt. Es fühle sich so frei an, es fühle sich nach Freiheit an. Ich lade Frau N. ein, dieses Gefühl von Weite und Freiheit in der Brust mit der Berührung auszukosten und das Lächeln noch dazu zunehmen.

Herr S. erzählt, er fühle einen Druck im Magen. Ich frage nach der Größe und Farbe. Herr S. zeigt die Größe mit den Händen (etwa wie ein Fußball). Die Farbe sei schwarz und die Oberfläche wellig/rund. Herr S. berichtet weiter, der Druck sei etwas Bekanntes, nur die Oberfläche habe sich verändert. Diese sei zu Behandlungsbeginn kantig, spitz und unangenehm gewesen. Jetzt würde sich die Oberfläche angenehm anfühlen. Ich lade Herrn S. ein, die Hände auf den Bereich zu legen und noch für einen Moment dort bei dem Angenehmen zu bleiben.

Frau F. erzählt, sie fühle sich unruhig und unzufrieden. Sie habe gestern eine Panikattacke gehabt und es sei ihr nicht möglich gewesen, sich mit den „erlernten Tools“ wieder zu beruhigen. Dies habe sie sehr ärgerlich gemacht. Ich lade Frau F. ein, die Unruhe zu begrüßen und frage, wo sie die Unruhe/Unzufriedenheit im Körper spürt. Frau F. erwidert, sie fühle sie im Magen. Ich frage, ob es neben der Unruhe im Magen auch einen Ort im Körper gebe, an dem es sich wohlig anfühlt. Frau F. antwortet, den würde es nicht geben. Ich lade Frau F. ein, auf die Suche zu gehen und begleite sie dabei. Frau F. landet bei ihrem Daumen, hier fühlt es sich warm und Gehalten an. Ich lade sie im ersten Schritt ein, dort zu verweilen und das Gefühl auszukosten. Dann schlage ich ihr vor, sich eine Brücke / Verbindung zwischen den beiden Orten vorzustellen und etwas von der Wärme und dem Gehalten sein zum Magen fließen zu lassen. Diesen Vorschlag kann sie für sich annehmen und ihr Gesichtsausdruck sieht weicher und entspannter aus.

Wie kann Focusing die Übungen erweitern?
Im Gespräch führe ich die Patient:innen immer wieder zu ihrem inneren Erleben und verlangsame den Prozess. Wenn ein schwieriges Gefühl entsteht, gehen sie häufig schnell drüber hinweg. Ich begleite sie wieder dorthin und lade zum Innehalten ein. Was ist da? Ist es etwas Trauriges? Ist es etwas Ängstliches? Gemeinsam versuchen wir, bei dem Gefühl zu bleiben, es nur am Rand zu berühren und dabei immer wieder tief durchzuatmen. Was ist jetzt? Häufig entsteht durch die Berührung zu dem schwierigen Gefühl eine Erleichterung.

Ich lade die Patient:innen dazu ein, sich mit einem angenehmen Erlebnis aus der Vergangenheit zu verbinden (eine Übung aus dem MBSR) und zu erforschen, was sie im Körper spüren, welche Gefühle und Gedanken da sind. Während die Patient:innen berichten, begleite ich sie im Mini-Focusing-Prozess immer wieder zu ihrem Körper an die Stelle, an der es am deutlichsten spürbar ist. Ich lade sie zum Innehalten und Auskosten ein. Durch das Niederlassen, Verweilen und Auskosten im inneren Erleben, wird das Gefühl bei ihnen intensiviert.

Die beruhigende Berührung - eine Übung aus dem MSC - ist dafür da, sich selbst in schwierigen Momenten über körperliche Zuwendung Mitgefühl zu geben. Die Patient:innen berühren sich selbst an verschiedenen Körperstellen mit den Händen und lauschen nach innen. Ich frage sie, an welcher Stelle die Berührung besonders angenehm ist? Was sie dort so angenehm macht? Wie die Berührung sich von innen anfühlt?

Im MSC liegt der Fokus auf der Beruhigung, die durch die Berührung entstehen kann. Beim Focusing liegt in dieser Berührung noch viel mehr, wie z.B. Verbundenheit, gehalten werden, Sicherheit, Lebendigkeit, Nähe, Weite, ein tiefes Durchatmen, …

Ich mit mir
Zu Beginn meiner klinischen Tätigkeit habe ich häufig in der Gruppenarbeit meinen Freiraum verloren. Ich bemerkte, wie ich mich unsicher, ärgerlich, gelangweilt oder körperlich angespannt fühlte und die Gefühle von den Patient:innen häufig auf mich bezog. Durch das bewusste Wahrnehmen und das Aufsuchen des guten Ortes konnte ich oft meinen Freiraum wieder finden. Dies ging mit körperlicher Weite und Aufatmen einher und beeinflusste den Gruppenprozess positiv. Über die Zeit habe ich bei der Arbeit mit den Patient:innen gelernt, eigenes strukturgebundenes Erleben wahrzunehmen. Ich wurde zunehmend sicherer, dem Entstehen zu vertrauen.

Zusätzlich treffe ich mich regelmäßig zum partnerschaftlichen Focusing, das mich auf meinem Weg und bei meiner Arbeit sehr unterstützt und mir die Möglichkeit gibt, in Bewegung mit mir zu sein.

 

 


Kommentare powered by CComment