Ein Beitrag von Hans Neidhardt
Der „Klassiker“
Es gibt wenige Experimente, die so eindrücklich mentale, emotionale und körperliche Reflexe (strukturgebundene Reaktionen) im Unterschied zum Felt Sense und den daraus entstehenden Antworten direkt erlebbar werden lassen wie die „Kompliment-Übung“: Zwei Menschen - A und B - sitzen (z.B. im dritten Seminar der Focusing-Ausbildung) einander gegenüber. A schließt die Augen, sammelt die Aufmerksamkeit z.B. mit Hilfe des Atems, wird empfänglich und wartet. A bekommt dann die Anweisung, sich zusätzlich der Anwesenheit von B bewusst zu werden: „Und jetzt bitte ich dich, zu beobachten, was in dir entsteht, wenn du dir vorstellst, dass dein Gegenüber B dir ein Kompliment macht.“ Stille. A beobachtet in aller Ruhe seine „spontanen“ Reaktionen auf die Vorstellung, ein Kompliment zu erhalten.
Hier einige Beispiele für automatisierte Reaktionen auf die Vorstellung, ein Kompliment zu erhalten:
A1: „Ich erkenne sofort umso deutlicher, was eben nicht lobenswert ist: Dieses und jenes ist noch nicht so, wie es eigentlich sein sollte.“
A2: „Ich wachse innerlich ein wenig und bemerke gleichzeitig einen Tendenz, mich nach außen ein bisschen kleiner machen zu wollen, so als wollte ich sagen: Vielen Dank, aber das ist doch selbstverständlich.“
A3: „Das geht rein wie Öl. Ich könnte gleich noch einen Zahn zulegen und noch eine Geschichte erzählen. Gebt mir mehr davon!“
A4: „Ich denke sofort: Wenn du wüsstest... aber du hast ja keine Ahnung, wie ich wirklich bin und deswegen ist dein Kompliment auch nicht viel wert. Netter Versuch.“
A5: „Ich gehe sofort etwas zurück, fühle mich leicht unbehaglich fühlen – hier rückt mir jemand auf die Pelle - und brauche Zeit und Abstand, um die Situation zu erst einmal zu analysieren.“
A6: „Ich werde sofort hellwach, bin auf der Hut und auf dem Sprung sind. Man kann schließlich nie wissen, ob hinter einem Kompliment nicht noch etwas ganz anderes versteckt ist – das dicke Ende, das da noch nachkommen könnte.“
A7: „Ich fange an, vor Freude zu sprudeln und könnte gleich selbst noch zwei Komplimente machen“.
A8: „Ich werde ein bisschen finster und denke: Was soll das Gesülze? Ist doch völlig überflüssiges Zeug.“
A9: „Es ist mir unangenehm, so viel direkte Aufmerksamkeit zu erhalten. Wie wenn ich im Scheinwerferlicht stehe, was ich gar nicht mag.“
Nun wird B aufgefordert, sich Zeit zu nehmen, tatsächlich ein Kompliment für A zu finden und innerlich zu formulieren. A gibt ein Zeichen, wenn er bereit ist, das Kompliment zu empfangen. B sagt das Kompliment in wenigen Worten. A lässt es auf sich wirken und erhält eine zusätzliche Hilfestellung, die Wirkung des Kompliments „tiefer“ bzw. „weiter unten“ im Körper entstehen zu lassen und dem nachzuspüren, was „von dort aus“ antworten möchte.
Automatisierte innere Vorgänge
Die automatische allererste Reaktion in diesem Experiment – in innerer Achtsamkeit und in Zeitlupe beobachtet – gibt ganz oft erstaunlich gut passende Hinweise auf komplexe Muster der Aufmerksamkeitsorganisation. Wenn wir den Grundsatz ganz ernst nehmen, dass das, was wir erleben, durch die Art und Weise bestimmt wird, wie wir uns auf unser inneres Erleben beziehen, dann können wir unsere automatischen Reaktionen daraufhin untersuchen, unsere Wachheit für die strukturgebundenen Anteile des Erlebens und Verhaltens schärfen und, wie im zweiten Teil der Komplimentübung, Freiraum schaffen, den Felt Sense einladen und frische, unmittelbare Antworten entstehen lassen. Didaktisch wertvoll daran ist die in der direkten Erfahrung nachvollziehbare Unterscheidung von „reaction“ (strukturgebunden, automatisiert, scheinbar spontan, reflexartig) und „response“ (entstanden aus dem Freiraum und dem Verweilen bei dem hier und jetzt sich formenden Felt Sense).
Ich stelle mir das gern so vor, dass eine (strukturgebundene) Reaktion das Ergebnis eines blitzartig ablaufenden inneren Verarbeitungsprozesses ist, der sich grafisch z.B. so darstellen lässt:
Im Alltagsbewusstsein machen wir „normalerweise“ zwischen der Wahrnehmung eines Ereignisses (z.B. Kompliment) und der Bedeutung, die wir ihm unwillkürlich geben, keinen Unterschied und bemerken nicht, dass wir gar nicht direkt auf das Ereignis reagieren, sondern auf die innerlich automatisch generierte (Be-)Deutung. Vereinfacht gesagt: Ein äußeres Ereignis drückt „auf einen Knopf“, es läuft eine (strukturgebundene) interne Verarbeitung in meinem Aufmerksamkeits-, Denk-, Fühl-, Vergangenheits-, Zukunfts-Supercomputer, und blitzartig wird eine Reaktion ausgespuckt. Die Quelle unzähliger Missverständnisse, Streitigkeiten, Kriege, Trennungen und so weiter.
Allein die zahllosen Möglichkeiten, reflexartig auf ein Kompliment zu reagieren, können uns darauf hinweisen, wie sehr unsere Aufmerksamkeit unwillkürlich von immer wieder ähnlichen Reiz-Konstellationen „magnetisch“ angezogen wird, andere Phänomene glatt ignoriert (weil sie subjektiv keine Bedeutung haben), bzw. gewisse Aspekte hervorhebt und andere in den Hintergrund rücken lässt.
Und da das, was wir erleben, entscheidend bestimmt ist durch die Art und Weise, wie wir uns auf unser Erleben beziehen, ist die Untersuchung der automatischen Organisationsmuster unserer Aufmerksamkeit eine wichtige Hilfe beim Freiraumschaffen.
Organisationsmuster
Eine Kugel wird auf einer Fläche so hin- und herbewegt, dass sie (nicht) in bestimmte Löcher fällt. Jeder kennt dieses nette Spiel in diesen kleinen Dosen mit den Kügelchen und den Vertiefungen.
Ich stelle mir vor, meine Aufmerksamkeit ist so eine Kugel. Die rollt hin und her, wenn sie frei beweglich ist, und befasst sich mal mit meiner „inneren“ Wirklichkeit (Gedanken – Gefühle - Stimmungen - Bilder – Körperempfindungen – Impulse – usw.), mal mit meiner „äußeren“ Wirklichkeit (dieser andere Mensch - diese Gruppe - diese Lage, in der ich mich befinde - diese Aufgabe - usw. ). Und die Aufmerksamkeitskugel rollt nicht nur in der Raum-Dimension (von da nach dort), sondern auch in der Zeit-Dimension (in die erinnerte Vergangenheit, in die vorgestellte Zukunft). Und manchmal scheint die Kugel in der Mitte stehen zu bleiben, weil meine Bewusstseinsdose gut ausbalanciert ist. Dann ist die Aufmerksamkeit frei – hier (wo „innen“ und „außen“ zusammenkommen) und jetzt (wo Vergangenheit und Zukunft verschmelzen).
Ich habe oben aus der Vielzahl der „reactions“ auf den Input „Kompliment“ (dem Enneagramm zuliebe) neun mögliche Reaktionen herausgefischt und versprachlicht. Die automatischen Gedankenmuster sind inhaltlich natürlich immer wieder anders, und sie sind eng verknüpft mit komplexen Veränderungen der Stimmung, der Körperphysiologie, der Bewegungsimpulse (und der Hemmung solcher Impulse), der Emotionen, des Kontakterlebens und und und...
Jede dieser Reaktionsmöglichkeiten lässt sich aber mit der Frage „Wohin rollt die Kugel, wenn...?“ daraufhin untersuchen, ob der Aufmerksamkeitsfokus automatisch eher „innen“ oder „außen“, eher (zeitlich) „rückwärts“ oder „vorwärts“ liegt. Und natürlich außerdem, ob dieser Vorgang eher mit „positiven“ oder „negativen“ emotionalen Färbungen versehen ist.
Vorfreude oder Schwarzsehen (hinsichtlich der Zukunft), Ärger, Trauer, Schwelgen (hinsichtlich der Vergangenheit), die eigene innere Lage (mein eigenes Wohlsein/Unwohlsein) schwerpunktmäßig im Zentrum des Gewahrseins, die gewohnheitsmäßige Ausrichtung der Aufmerksamkeit nach „außen“ (Zu Personen? Zu Dingen?) – diese vielfältigen (und bei „reactions“ immer wieder gleichen) Abläufe lassen sich mit der Kugel-Metapher ganz gut abbilden.
Es ist dann nämlich so, als ob der Boden der „Dose“ gewisse Vertiefungen und Rillen aufweist – die durch den häufigen bevorzugten Gebrauch bestimmter Bewegungen entstanden sind und mittlerweile die „Kugel“ mühelos in die immer wieder gleichen Löcher lenkt.
Ich möchte nicht so weit gehen wie Gurdjieff, von dem der Ausspruch überliefert ist, der Mensch sei eine Maschine. Aber das „Maschinenartige“ an zahllosen Bewusstseins- und Erlebensprozessen leugnen zu wollen, wäre auch fatal.
Das – nicht nur für unser Focusing! – Entscheidende ist doch, dass wir öfter und klarer bemerken, „wie die Kugel rollt“, also Aufmerksamkeit entwickeln für die subtilen Verlagerungen unserer Aufmerksamkeit. Und dass wir üben („Freiraumschaffen“ ist z.B. eine solche Übung), eine Balance wiederzufinden, in der die Aufmerksamkeit „hier“ (Gendlin: Der Körper in der Situation und die Situation im Körper) und „jetzt“ (Gendlin: Der Körper impliziert den nächsten Schritt) ist. Wenn die „Kugel“ balanciert im Zentrum der „Dose“ gehalten wird, dann wird der automatisierte Prozess der Bedeutungsgebung unterbrochen, die „reaction“ wird angehalten und der Zugang zur jetzt gefühlten, ganzen frischen Bedeutung des Ereignisses jetzt wird möglich.
Antworten statt Reaktionen
Was es nämlich genau jetzt und hier bedeutet, dieses Kompliment zu empfangen und diese Bedeutung umfassend zu fühlen, ruft bestimmt etwas anderes hervor als die schon bekannte automatisierte Reaktion. Dieses „andere“ nennen wir eine Antwort („response“). Eine solche Antwort entsteht höchstwahrscheinlich immer dann, wenn wir die „Dose“ flach und die „Kugel“ ruhig halten. D.h. wenn die Qualität unserer Aufmerksamkeit einigermaßen rezeptiv, absichtslos und frei von Urteilen und Voreingenommenheiten ist.
Eine entscheidende innere Aktivität beim Focusing ist es, immer wieder und immer wieder unsere Absichten, Urteile, Lieblingsträumereien… d.h. die Verlagerungen der Aufmerksamkeit nach „da“ und „dort“ zu bemerken und die „Kugel“ wach und entspannt mit minimalen inneren Bewegungen wieder in Balance zu bringen, wenn sie irgendwo „eingelocht“ wurde. Mit der Zeit könnte sich in der Mitte der „Dose“ durch die regelmäßige Übung des Freiraumschaffens eine kleine angenehme „Delle“ bilden. Verweilen ist dann (fast) alles.
Der Rest passiert dann (fast) von alleine. Shift happens.
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