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Der Focusing-Blog

Pflanzenkörper, Tierkörper, Menschenkörper

Pflanzenkörper, Tierkörper, Menschenkörper

von Gene Gendlin.
Der folgende Text entstand als Transkipt aus Diskussionen und Gesprächen auf der Internationalen Focusing Sommerschule, Gendlin hat hier ab 1992 Seminare gehalten.


Gene Gendin: „Ich kann also, anstatt zu glauben, daß der menschliche Körper ganz anders ist als alle anderen lebendigen Körper - und damit die ganze Tierwelt und alle die Pflanzen den Physiologen zu überlassen und das Wort "Körper" nur für die Menschen zu retten - das Wort "Körper" auch für alle lebendigen Körper verwenden. Ich drehe mich sozusagen um und wende das, was ich vom Focusing lerne, auf alle lebendigen Körper an.

So kann ich jetzt die Metakonzepte, die ich gerade schnell skizziert habe, benutzen, um über alle lebendigen Körper zu sprechen und vielleicht sogar auch über die, die nicht lebendig sind. Die einzigen Körper, die ich nicht so behandeln würde, sind die Maschinen. Es ist ein großer Unterschied zwischen Maschinen und Steinen. Wenn ich auch nicht viel über Steine weiß, weiß ich doch den Unterschied. Ich komme darauf noch zurück.

Was ich jetzt sagen will ist: Von diesem Gesichtspunkt aus wollen wir auch die Biologie und die Botanik umändern. Es gilt nämlich jetzt schon einige hundert Jahre die Annahme - und die geht auch auf die Griechen zurück -, daß der Mensch ganz anders sein soll als die Tiere. Und das ist nicht wahr. Jeder, der mit Tieren zu tun hat, weiß das. Aber das kommt in die Theorie nicht hinein. Der Mensch soll von der Kultur erfunden worden sein und soll diese Seelen oder Gehirne oder so etwas haben, die schweben. Die ganze menschliche Welt soll schweben und dann, unter diesem Schweben, soll ein Körper sein, der nur eine Maschine ist. In diesem Körper sollen wir herumfahren wie in einem Auto. Aber es ist nicht so und man weiß auch, daß es nicht so ist. Die Denkart ist aber so und die Theorien auch. Deshalb ist auch alles relativ, weil die Kulturen natürlich von einer Zeit zur anderen und von einer Gegend zur anderen verschieden sind. Und wenn die Kultur wirklich den Menschen geschaffen hat, dann gibt es natürlich auch keine menschliche Natur. Es gibt nur verschiedene Kulturnaturen. Unter diesen Annahmen stimmt das auch: Weil alles Definierte von der Kultur abhängig ist und die Kultur immer unterschiedlich ist, kann man die menschliche Natur nicht definieren.

Aber die menschliche Natur ist ganz klar, ganz offensichtlich. Es ist ganz offensichtlich, ob das, was du siehst, ein Mensch ist oder etwas anderes. Selbst wenn du in Neuguinea im Dschungel bist und du von einem, der dich aus dem Busch anschaut und aufessen will, nur die zwei Augen siehst, weißt du, daß das ein Mensch ist und nicht etwas anderes. In der Wissenschaft gibt es nichts, was dich anschauen könnte. Wir müssen auch sagen, daß es in der heutigen Philosophie keine menschliche Natur gibt. Es gibt nur kulturelle Naturen, weil die ganze Kultur schwebt und der menschliche Körper und der Mensch als Mensch so definiert ist, daß er mit den Tieren und den Pflanzen gar keine Verbindung mehr hat. Das ist alles falsch. Wenn man die Tiere beobachtet, ist es ganz klar, daß sie schon 90 % von dem haben, was wir als Menschen haben. Wir sind dann halt wild geworden und machen ganz unnatürliche Dinge, und über diese Dinge wollen wir auch sprechen, weil sie natürlich - das ist schon wahr - das Interessanteste an uns sind.

Aber die Verbindung, die continuity - Kontinuität? Das glaub' ich nicht, dafür muß es schon ein deutsches Wort geben; ich muß bei Kant nachschauen, wie das auf deutsch heißt -, den
ununterbrochenen Fortgang zwischen den Pflanzen und den Tieren und uns, den müssen wir wieder herstellen. Sonst haben wir nicht den Körper, den wir im Focusing benutzen und sonst kann man nicht verstehen, wieso ein Felt Sense etwas weiß, das wir nicht wissen und wieso er eine Bedeutung deuten kann, die wir nicht von außen deuten müssen.
Jetzt bin ich wieder auf das zurückgekommen, womit ich angefangen habe. Aber es ist nicht notwendig, sich zu erinnern, womit ich angefangen habe. -(Lachen)- Aber die Kontinuierlichkeit, oder wie immer das heißt, müssen wir wieder herstellen, denn ein lebendiger Körper, ein Pflanzenkörper und ein Tierkörper, ist schon ungemein kompliziert und verwickelt und lebt. Die Tiere schauen sich an und die Tiere leisten einander Gesellschaft. Sie klauben für den anderen die Flöhe aus dem Fell heraus, und das tun sie nicht nur, weil die Flöhe beißen, sondern um Gesellschaft zu leisten, auch wenn keine Flöhe da sind. Das alles ist schon da, und wenn man das alles vergißt und neu mit der Kultur anfängt und mit der Sprache und mit der Logik, dann kommt man nie wieder darauf zurück. Dann wird alles relativ und von außen gedeutet. Das werden wir alles ändern.
(Steht auf und will gehen. Klatschen)
Es ist lustig, mit euch zu sprechen, weil ihr das implizit schon alles wißt.

Jetzt will ich ein Zweites sagen und vielleicht haben wir dann Zeit, diese beiden Teile zusammenzusetzen.
Wir sind doch Tiere, das ist klar. Wir sind Affen. Wir sind auch Menschen dazu, aber wir sind sicher Tiere. Ich will etwas sagen, das nicht ganz richtig klingt: Wir sind auch Pflanzen. Wißt ihr das? Für die Tiere ist charakteristisch, daß sie sich verhalten. Sie gehen herum, so wie wir, und sie haben Familien, so wie wir, und sie tun alles mögliche, so wie wir. Und sie haben auch fünf Sinne, so wie wir.

Wenn wir philosophieren und immer gleich mit dem Menschen anfangen, dann geht das nicht gut. Das habe ich schon gesagt. Das Menschliche schwebt dann und ist relativ. Die Kultur soll alles erfunden haben. Das ist nicht wahr. Aber wenn wir mit den Tieren anfangen, dann geht's auch noch nicht. Denn die Tiere verhalten sich nicht einfach nur, die Tiere haben auch einen Körper, der an sich lebt. Das ist natürlich klar und jeder weiß das.

Es ist schlecht ausgedrückt, wenn ich sage, daß wir Pflanzen sind. Aber ich will das so ausdrücken. Wir sind auch Pflanzen. Wir haben, so wie sie, einen Körper aus Zellen, einen organismischen Prozeß. Dieser Körper lebt, und nicht nur deshalb, weil wir mit diesem Körper herumgehen. Nein, auch im Körper selbst geht alles mögliche vor sich. Und das, was da vor sich geht, geht nicht nur im Körper vor, sondern es ist immer unmittelbare Interaktion mit der Umwelt. Wir atmen ein und wir atmen aus, wir essen und wir gehen aufs Klo, wir schwitzen und wir trinken. Der ganze Körper ist Interaktion. Und im Körper drinnen ist wieder Interaktion. Alles ist mit allem in irgendeiner Beziehung, die aktiv vor sich geht.
Wenn man also den Körper als Interaktion mit der Umwelt ansieht, dann kann man sagen, daß der Körper eine ganze Menge über die Umwelt weiß. Nicht "wissen" in dem Sinn, wie wir dieses Wort gewöhnlich benützen, als so etwas wie ein separates Bild. Aber der Körper "weiß" von der Luft, weil er sie einatmet. Und er weiß vom Wasser, weil er es trinkt und weil er schwitzt. Er weiß das alles.
Das heißt, der Körper selbst strukturiert den nächsten Moment, und der Prozeß des Körpers geht weiter. Er gebraucht die Umwelt auf irgendeine Weise, die strukturiert ist. Daher kann ich sagen: Die Pflanze kennt ja das Licht. Nicht als etwas separat Gesehenes, aber sie kennt das Licht. Denn sie macht Blätter mit dem Licht und dem Wasser und der Erde. Die Pflanze ist an sich Information über das Licht und die Erde und das Wasser. Wenn ich das sage, ist das nicht mysteriös, es ist einfach.
Wenn nun die Pflanze zum Sprechen käme oder wenn die Pflanze einen Felt Sense hätte, oder sagen wir, wenn sich der Pflanzenkörper selber fühlen könnte, dann wären in diesem Fühlen implizit alle Informationen über das Wasser und das Licht und wie man Blätter bildet und was das Nächste wäre, das der Pflanzen-Prozeß braucht, enthalten. Darüber wären wir nicht überrascht. Wir wären nur darüber überrascht, daß sich die Pflanze selbst fühlen kann.
Was mir dabei wichtig ist: Die Pflanzen haben die fünf Sinne nicht, oder wenigstens nicht genau so wie wir. Und trotzdem sind alle diese Informationen im Pflanzenkörper drin - ohne daß die Pflanze Sehen und Hören und Antasten und Riechen kann. Das kommt daher, daß dieser Körper selbst Interaktion ist.
Jetzt habe ich euch Focusing erklärt. Richtig? Der körperliche Felt Sense enthält implizite Informationen der Umwelt“.


Einschub nach Akira Ikemi:
Er illustriert diese Theorie mit den Sonnenblumen. Betrachten wir ein Sonnenblumenfeld, so sehen wir, dass alle Blütenköpfe immer zur Sonne stehen. Die Pflannzen richten sich nach der Sonne aus, obwohl sie keine Augen haben. Auch stecken und biegen sich sich auf höchst intelligente Weise um viel Licht zu bekommen. So können wir erkennen, dass Pflanzen tatsächlich ohne Augen sehen, ohne Synapsen spüren wo andere Pflanzen sind oder wo sich die Mauer zum Ranken befindet. Und sich auch je nach Boden und Sonne entwickelt.
Wir leben in Situationen als Pflanzenkörper. Neuerdings gibt es Forschungen, die behaupten, dass die Pflanzen miteinander kommunizieren und auch Zimmerpflannzen die menschlichen Bewohner erkennen.


„Natürlich fehlen ein paar Stücke. Wir gehen jetzt weiter und sagen: Der tierische und menschliche Körper hat fünf Sinne. Die kommen zum Pflanzenkörper dazu. Aber mit diesen fünf Sinnen fängt es nicht an. Sie kommen nur dazu. Und darüber hinaus leben wir dann noch in allen möglichen komplizierten Situationen, die wir auch mit dem Körper erfahren und erleben. Das alles fügt zu dem Pflanzen-Sein oder Pflanzen-Wissen eine Menge Kompliziertes dazu. Aber es ändert nicht die Grundtatsache, daß der Körper eine Interaktion ist und daß es ein Wissen gibt, das ein Sein-Wissen ist.
Natürlich möchten wir auch gerne erklären, wie wir das "zweite" Wissen bekommen, nämlich daß wir ein Abbild, eine Idee von etwas haben können. Aber das stellen wir momentan beiseite.
Das einzige, das ich jetzt sagen muß, ist ... No, vielleicht laß' ich's. Vielleicht sag' ich einfach nur, daß wir unsere Situationen mit unserem Körper erleben und uns in Situationen körperlich verhalten. Kann das klar sein? Ein Beispiel dafür habe ich schon erzählt: Wenn ich die Straße überquere, um einer Person Hallo zu sagen, dann mache ich das aus meinem Körper heraus ganz spontan richtig. Die tausend Dinge, die für diese Situation erforderlich sind, werden alle gekreuzt, und es kommt gut heraus. Wenn ich mein Gesicht künstlich richten will, so daß es gut ausschaut, wird's nicht so gut gehen. Genau so fahren wir auch Auto mit dem Körper. Und genau so spreche ich auch jetzt. Ich habe so ein Gefühl, was ich sagen will und hoffe, daß die richtigen Worte aus meinem Mund kommen. Wenn nicht, muß ich mich entschuldigen und es noch einmal versuchen. Wenn wir sprechen, gehen wir doch nicht innerlich in eine Bibliothek oder schauen in einem Wörterbuch nach. Ich habe einen Felt Sense über das, was ich sagen will. Warum will ich das sagen? Weil ich in einer Situation lebe, nicht? Wenn ein Tier hungrig ist, ist das nicht viel anders. Das Tier geht etwas zu essen suchen. Wir erleben unsere Situation mit - oder vom oder im - Körper. Der Körper ist die Interaktion.
Ohne menschlichen Körper gibt es ohnehin gar keine Situationen. Dinge, die sind so im Raum, aber die Situation ist immer deine. Wenn du nicht da bist, ist deine Situation auch nicht da. Wir erleben die Situationen nicht nur mit dem Körper, wir konstruieren die Situationen auch mit dem Körper. "Konstruieren" ist kein gutes Wort. Das klingt so, als ob wir das kontrollieren würden. Das will ich nicht sagen.
Das einzige, worauf ich jetzt ziele, ist: Es ist nicht mysteriös, es ist ganz zu verstehen, daß ein Felt Sense mehr Informationen hat, als wir bewußt im Kopf haben - weil wir die Situationen mit dem Körper erleben und erfahren“.

 


Dr. Johannes Wiltschko hat diesen Text 1994 für die damalige DAF-Bibliothek transkripiert. 2008 hat er den Text in „Focusing und Philosophie“ - Gendlin über die Praxis körperbezogenen Philosophierens; Gendlin / Wiltschko aufgenommen.

 

Seminar zum "Pflanzenkörper":

Pflanzenkörper - Tierkörper - Focusingkörper. Seminar vom 19.-23.07.24 auf der 43. Internationalen Focusing Sommerschule 2024 (Focusing-Sommer im Schloss) mit Klaus Renn. Informationen und Anmeldung HIER.

 

Prof. Dr. Akira Ikemi hat auf der 5. Focusing-Impuls-Konferenz einen Vortrag gehalten. Er ist HIER anzuhören/zu sehen.

Ebenfalls gab es auf der 5. Focusing-Impulskonferenz einen Workshop "Zellgeflüster - Wir leben in Situationen als Pflanzenkörper". Eine Nachlese dazu findet sich HIER


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