Wenn Bedeutungen aus der Vergangenheit kommen, wie hat man sie sich damals angeeignet? Wenn es damals einen Weg gab, etwas Neues zu verstehen, warum nicht jetzt auch? (...) Wenn je etwas Neues geschehen kann, dann kann es vermutlich auch jetzt geschehen. Wenn wir ein Ereignis erklären, bedeutet das nicht, dass alles, was das Ereignis ausmacht, schon vorher da war.
Eugene Gendlin, Ein Prozessmodell, 2016, S. 98-99
Dieses Zitat von Gendlin findet sich in dem Abschnitt seines philosophischen Werkes "Ein Prozessmodell", in dem er das Neue, das immer wieder geschieht, von mehreren Seiten beleuchtet. Hier wird eine andere Auffassung von Zeit beschrieben, die mich fasziniert und erstaunt hat.
Häufig sagen wir so etwas wie: "Die Vergangenheit bestimmt die Gegenwart" oder "Mein Elternhaus hat mich geprägt, so bin ich nunmal". Es gibt das Vergangene, das sich wie ein festes Sediment am Boden meines Lebens anfühlen kann. Üblicherweise haben wir so eine Vorstellung von der Vergangenheit als etwas Abgeschlossenes und Unabänderliches. Erfahrungen und Ereignisse haben dazu beigetragen, wie ich mein Leben, meine Beziehungen, mich selbst wahrnehme. Vielleicht erzähle ich Geschichten aus meinem Leben immer wieder, manches, was mich erheitert, anderes, was schmerzhaft war oder mich beschämt hat. Spreche ich darüber wie eine von mir abgetrennte Geschichte?
Ja, Gendlin spricht auch von den Bedeutungen der Vergangenheit. Es gab damals einen Weg, wie man sich die Bedeutungen angeeignet hat. Doch er fragt weiter: Wenn es damals möglich war, etwas Neues zu verstehen, dann ist es heute auch möglich. Jeder Moment ist ein radikales Jetzt, wo etwas Neues geschehen kann!
Gendlin zeigt in seinem Prozessmodell eine andere Vorstellung von Zeit. Er versteht die Zeit nicht linear: Das war damals, diese Ereignisse gab es in der Vergangenheit. Sondern er spricht davon, dass die vergangenen Erfahrungen an der Gegenwart teilhaben. Vergangenheit und Gegenwart geschehen beide jetzt. Wenn ich etwas Altes in Erinnerung rufe, dann löst es heute etwas in mir aus, ich erzähle es in dieser Situation, mit diesem Gegenüber, in meiner heutigen Verfassung auf eine bestimmte Art und Weise. Und damit bin ich neu und frisch verbunden mit dem Vergangenen - aber nicht so, wie es damals war, sondern so, wie es heute wirkt. Wenn ich mir das klar mache, fühle ich mich frisch und frei.
Gendlin geht prozesshaft davon aus, dass sich ein Ereignis, über das wir sprechen, fortwährend ändert. Es geschieht in diesem Moment etwas, was sich auf das Ereignis damals bezieht. Und er geht sogar noch einen Schritt weiter und sagt, dass die Vergangenheit sich verändert, wenn ich das aus dem lebendigen Körperprozess fortlebe, was darin schon eingefaltet ist.
Gendlin drückt es so aus:
Ja, es gibt tatsächlich eine Verangenheit, die jetzt ist, und diese Vergangenheit wird jetzt verändert.
Eugene Gendlin, Ein Prozessmodell, 2016, S. 100
Es verändert sich nicht nur das Erleben im gegenwärtigen Moment, sondern sogar die Vergangenheit! Wir tragen das Vergangene in unserem Körper und daher ist es auch immer jetzt. Aber wie sie sich jetzt entfaltet, ist immer wieder neu und anders. Lass ich mich also überraschen, von dem, was immer jetzt Neues geschieht!
Foto: Christiane Henkel
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