Ein Beitrag von Walter Papai
Die Ausgangssituation:
Bei meiner Tätigkeit als Fachdozent für jugendliche Auszubildende mit Reha Status ist mein Aufgabenbereich grundsätzlich klar definiert:
- Es geht in erster Linie um die Lernunterstützung beim Berufsschulstoff und bei der theoretischen Bewältigung der Ausbildungsinhalte.
- Außerdem geht es um alles andere, was die jungen Menschen beschäftigt. Themen aus dem schulischen, betrieblichen oder privaten Bereich. Diese Themen kommen auf, da ich wöchentlich ca. 4 Stunden mit den Azubis verbringe und sich daher ein gewisses Vertrauensverhältnis entwickelt hat.
Es handelt sich hierbei um ca. 25 Menschen jede Woche. Normalerweise begleite ich die Auszubildenden insgesamt über zwei bis dreieinhalb Jahre hinweg, durch die komplette Ausbildung. Dies ist eine bedeutende Lebensphase, in der sie von der Pubertät zu erwachsenen Menschen heranreifen.
Der Reha-Status bei den Jugendlichen hat sehr unterschiedliche Gründe.
Hier einige Beispiele: Depression bis Manie, Borderline, LRS, Diskalkulie, ADS, ADHS, Mutismus; Autismus, Angststörungen, Konzentrationsschwächen, leichte körperliche Behinderungen, Psychose, Drogenmissbrauch, Heimaufenthalt, Verluste, Vernachlässigung und Misshandlung.
Während dieser Arbeit finden sich folgende, den „idealen“ Bedingungen gegensätzliche und vielleicht auch potentiell freiraumraubende Situation vor:
- Einfacher Unterrichtsraum ohne Atmosphäre
- Raum nicht wählbar
- Keine nutzbaren Gegenstände
- Ein bis vier Auszubildende mit Dozent in einem kleinen Raum
- Geräusche/Lärm von außen
- Körpergerüche
- Betreten des Raumes durch andere Menschen im Hause
- Häufiger Wechsel der betreuenden pädagogischen Fachkräfte
- Noten und schulische Leistungen
- Lernplan
- Vorgaben der Kostenträger
- Vorstellungen und Wünsche der Seminarleiter, Ausbilder und Berufsberater
- Prüfungen
- Eigene Prägungen, Ansprüche, Wünsche, Vorstellungen
Mein Focusing in dieser Arbeitswelt
Es fühlt sich beim ersten Lesen sehr „focusingfeindlich“ an. Beim Verweilen mit dieser unvollständigen Liste, dem Spüren im Bauch, merke ich jedoch, wie sich die Zeilen auseinanderschieben. Wie kleine, helle Stellen zwischen dem Geschriebenen entstehen.
Meine innere Focusinghaltung: der große Raum
Vielleicht ist jetzt der Punkt gekommen, an dem Focusing einfließt. All das gerade eben geschriebene wird etwas unklar. Ich halte es in der Körpermitte. Es entsteht etwas. Es ist weich, ein wenig Gänsehaut.
Ja, es berührt mich beim Schreiben. Und es wird liebevoll und achtsam.
Ein klares Ja entsteht.
Raum für all das.
Platz genau auf das einzugehen, was gerade obenauf liegt. Jeder darf so sein wie er eben ankommt. Eine akzeptierende, respektvolle Stimmung breitet sich aus.
Meine 50%
Gut, da ist beim konkreten Arbeiten noch viel mehr. Müdigkeit, Ärger, Anspannung, Unzufriedenheit, Ungeduld, Anstrengung, Erwartungen, Glaubenssätze…
Es darf in den großen Raum einfließen, sucht sich seinen Platz. Ich erkenne es an. Manchmal möchte es mitgeteilt werden. Ein klares „bei mir geschieht gerade...“ macht es gut mitteilbar, ohne das Gegenüber dafür verantwortlich zu machen. Es ist nicht wichtig, ob es gehört wird. Meine Jungs und Mädels können es dann auch gut nehmen und manchmal nehmen sie es ernst und versuchen darauf einzugehen. Wenn sie die Fähigkeit dazu haben. Und wenn nicht, dann eben nicht. Es ist ihre Entscheidung.
Grenzen setzen
Unterstützend in meiner Entscheidung, wie damit umzugehen ist, brauche ich dann schon mal einen Moment für mich. Einfach im Bauch damit verweilen. Dadurch wird es klarer und die Entscheidung Grenzen zu setzen oder es zu lassen hat eine andere Qualität als affektive Reaktionen auf gewisses Verhalten. Es wird echter, ist nicht so durch gesellschaftliche Vorgaben und Ansichten geprägt.
Die wertvollsten 5 Sekunden
Bei einem bestimmten Verhalten des Gegenübers springt normalerweise ein gewisser Automatismus an. Er glaubt genau zu wissen wie darauf zu reagieren ist. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass darin alte Glaubenssätze, eigene Erziehung und gesellschaftliche und kulturelle Prägungen im Vordergrund stehen.
In diesen (nahezu täglichen) Momenten zwang ich mich anfangs dazu 5 Sekunden zu warten, Inne zu halten, zu verweilen, mit meinem ganzen Körper in der Situation. Mittlerweile passiert das automatisch und es sind wahrscheinlich die fünf wertvollsten Sekunden. In über 50% der Fälle reagiere ich dann überhaupt nicht auf das sogenannte „Fehlverhalten“. Und das ist gut und stimmig so. Probiert es mal aus! Klappt auch gut bei den eigenen Kindern.
Im Hier und Jetzt
Eine kleine Geschichte die das Ganze etwas verdeutlicht:
Lars ist Auszubildender zum Malerfachwerker im 2. Lehrjahr, seine Diagnose ist sehr stark ausgeprägtes ADHS, das mit Medikamenten in recht starker Dosis therapiert wird. Er lebt mit seiner alleinerziehenden Mutter zusammen.
Er betritt 15 Minuten nach 8 Uhr den Unterrichtsraum.
„Ich habe meine Tablette vergessen“, knurrt er.
Er riecht nach kaltem Rauch und etwas muffig. Der Raum ist eng. Der zweite Azubi hat sich bereits krankgemeldet. Ich sitze da und höre meine innere Stimme:
„Er ist zu spät, das geschieht regelmäßig. Der riecht echt streng - wie soll ich hier 4 Stunden ohne Kopfschmerzen verbringen? Er ist mit dem Berichtsheft auch hinterher. Ich schicke ihn heim, die Tablette holen. Dann ist er zwei Stunden unterwegs und unser Unterricht ist für mich schneller vorbei. Er wird das Ausbildungsziel nicht erreichen. Du musst schimpfen! Ihm klarmachen, dass das so nicht weiter gehen kann, usw…“
Etwas schreit in mir: „STOP!!“
Ich sage nichts und nehme mir meine 5 Sekunden.
Er setzt sich breitbeinig auf den Bürostuhl und grinst mich etwas provokant an.
Die 5 Sekunden werden zu 50. Ich bleibe bei mir und habe keinen Impuls.
Nach ca. 2 Minuten Schweigen, frage ich ihn ganz klar:
„Und was soll mir das jetzt sagen?“
Grinsend erwidert er:
„Wenn ich meine Tablette nicht genommen habe, bin ich ziemlich Assi zu anderen Menschen.“
„Aha“, bringe ich raus „vielen Dank, dass du mich darauf hinweist“.
Er sagt nichts dazu und wir schweigen beide. Ich spüre in mir eine gewisse Diskrepanz:
Der Kopf brüllt:
„Das kannst du nicht durchgehen lassen! Ich muss sofort seine Betreuerin holen, soll die ihn doch nach Hause schicken.“
Der Brust-Bauchbereich:
Es fühlt sich warm an, eine gewisse Schwere ist da, ich möchte bleiben, bin neugierig
Ich stelle ihm folgende Frage:
„Ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll. Es wird uns aber sicher totlang-weilig, wenn wir jetzt 4 Stunden nur blöd herumsitzen. Was schlägst du vor?“
Er schaut mich ein wenig verwundert an.
Ich bestärke noch mal:
„Ich habe wirklich keine Ahnung, sehe aber auch keinen Sinn darin, dich jetzt zu stressen.“
Dann erwidert er:
„Das hat mir noch nie jemand gesagt.“
Dann beginnt er zu erzählen. Ich höre zu. Er erzählt von seinem Unterricht, dann noch ein wenig von seiner Mutter und vom Wochenende. Schließlich nimmt er sein Berichtsheft und fängt an zu schreiben. Er schreibt so lange es seine Konzentrations-fähigkeit eben zulässt und dann macht er eine Raucherpause. In diesem Rhythmus verbringen wir die 4 Stunden. Wir tun das, was eben gerade möglich ist.
Expliziter Focusingprozess mit einem Auszubildenden
Gelegentlich verlangt eine Situation auch nach einem konkreten Focusingprozess mit den Jugendlichen.
Dabei ist es sehr freiraumfördernd, wenn diese Einheiten mit allen Beteiligten klar ab-gestimmt sind. Sollte es sich ergeben, dass meine Auszubildenden eine Unterstützung durch Focusingeinheiten wünschen, ist es unerlässlich, das mit der sozialpädagogischen Betreuung zu klären. Sollte dieses Gespräch dazu führen, dass Focusingsitzungen erwünscht sind - und nur dann - kläre ich mit den Klienten das konkrete Anliegen und den Umfang.
Dabei geschieht auch etwas mit der Beziehung. Egal zu welchen Ergebnissen die Sitzungen führen, die Arbeitsbeziehung wird davon klar beeinflusst. Nicht besser oder schlechter, aber sie ist danach eben anders. Daher beschränke ich dieses Angebot eher auf Teilnehmer, die mit ihrem Lernstoff ganz gut selbst Zurechtkommen. Hier habe ich den nötigen Freiraum, um von meinem Grundauftrag abzuweichen.
Hier ein Beispiel:
Dominik macht eine Ausbildung zum Bauzeichner. Er hat einen guten Schulabschluss und kommt mit den Unterrichtsinhalten sehr gut alleine klar. Die praktische Arbeit im Architektenbüro bekommt er auch sehr gut hin. Er redet sehr wenig, ist ziemlich schüchtern und zurückhaltend. Daher schlage ich vor, uns über einige Focusingeinheiten, seinem sozialen Thema zuzuwenden. Dabei profitiert er sehr von der Arbeit mit Teilpersonen. Zu spüren, dass er mehr ist als seine bewusst gelebten Strukturen stärkte sein Selbstbewusstsein und machte ihn „ein wenig größer“.
Focusing beim Lernen: Mein Focusing / unser Focusing
Sicherlich ist es richtig zu betonen, dass das Innehalten, Spüren, Atmen und ganz da zu sein überwiegend bei mir abläuft.
Ein Körperempfinden, einen Felt Sense zu diesem Menschen und der Situation ent-stehen zu lassen. Damit da zu sein und den Jugendlichen beim Lernen zu begleiten, hat sich über die Zeit als eine unterstützende und auch schützende Herangehens-weise entwickelt.
Konkret zeigt sich das in unserem Lernprozess:
- Durch die Lerngeschwindigkeit über sinnvolle Pausen, innehalten, verschnaufen und vor allem Fragen, ob das so noch passt und sinnvoll ist
- Durch die Art den Lernstoff zu bearbeiten über Methodenwechsel, einfache Sprache, Wiederholungen usw.
- Durch die Freiheit auch mal Nichts oder nur das Allernötigste zu tun
- Durch die Möglichkeit nach draußen in den Park zu gehen
Das Beziehungsfeld zwischen uns, mit meiner körperlichen Präsenz, gibt die Impulse für diese Lernprozesse. Das wird von den Schülern als hilfreich und unterstützend empfunden und durch Aussagen wie: wir sind gerne bei Ihnen; fühlen uns nicht gedrängt; ich kann mich hier besser auf die Lernthemen einlassen; es ist entspannter als in der Schule; rückgemeldet.
Umgang mit den anderen Lehrgangsbetreuern
Neben mir als Fachdozent werden die Auszubildenden während der Ausbildung von anderem Fachpersonal betreut. Es gibt eine Lehrgangsleitung, die mit mir im regelmäßigen Austausch ist und auch meine Arbeit bewertet.
Dass es hierbei zu unterschiedlichen Ansichten, Meinungen und Lösungsansätzen kommt lässt sich leicht erahnen.
Der innere Kritiker
Bei der Zusammenarbeit mit Fachpersonal, ist mein innerer Kritiker sehr präsent. Er achtet darauf, dass ich mich bloß nicht blamiere oder Spott auf mich ziehe. Dabei nutzt er seine bevorzugten Gefühle wie: „nicht gut genug“, Zweifel, Rückzug, Selbstwert usw. Er animiert mich dazu, mich ganz klein und geduckt zu halten. Es führt meine Aufmerksamkeit nach draußen.
Mein Schutzsystem springt an: Gedankenfluten, unangenehme Gefühle, Selbstkritik, „ich muss es anders machen“, „das reicht nicht“, „die finden mich schlecht“, „gefährde ich meinen Auftrag?“, usw.
Sicherlich ist das nicht alles gleichzeitig da, allerdings kann mir der Kritiker schon ganz schön den Tag verderben und gelegentlich auch die Nacht. Und vor allem ohne auch nur ein einziges Mal von jemanden wirklich kritisiert worden zu sein.
Das Schlimmste für mich dabei ist, dass ich den Kontakt zu mir und meinen Klienten verliere. Ich fühle mich getrieben und auf jeden Fall „nicht genug“.
Was mache ich hier eigentlich?!
Ja, diese Frage ist es, die es schafft mich wieder einzufangen. Und hierbei geht es nicht um eine Antwort in Worten oder Gedanken, sondern einfach nur das sogenannte körperlich Gespürte dazu.
Was mache ich hier eigentlich?!
Da ist der Nacken (etwas steif und leicht angespannt), die Schulter (leicht nach oben gezogen), der Kopf (etwas eingezogen), die Augen (ein wenig starr), die Lippen (et-was zusammengedrückt), die Zähne (pressen etwas fester aufeinander), die Beine (übereinandergeschlagen), die Atmung (unbemerkt und etwas Flach, ein wenig kurz).
Oh, toll da spürt man ja etwas.
Ein tiefer Atemzug - GUT - der Bauch ist ja auch noch da, da ist es warm. Irgendwie ein guter Ort.
Was mache ich hier eigentlich?!
- Ich begleite Menschen ein Stück ihres Lebens
Die Antwort wandert in den Körper:
- Es ist ok, stimmt, irgendwie wärmend
Warum tue ich das?
- Weil es meine Azubis dabei unterstützt, gewisse Ziele zu erreichen
- Weil sie kein hilfreiches, eigenes Unterstützungssystem aufbauen konnten
- Weil sie sich mit den ganzen Anforderungen des Erwachsenwerdens allein und
- völlig überfordert fühlen
- Weil sie mit ihren schulischen Anforderungen alleine nicht klarkommen
- Weil sie sonst keinen Platz haben, an dem sie so sein dürfen wie sie eben sind
Die Sätze wirken:
- Im Bauch ist es ganz wunderbar und angenehm
- Ich könnte singen
Wie gelingt mir das?
- Ich bin da, als Mensch
- Ich spüre meinen Körper, bin mit ihm in gutem Kontakt und Austausch
- Ich habe sehr gutes Fachwissen
- Ich habe die Fähigkeit, mich auch in unbekannte Themen sehr schnell einzuarbeiten
- Die Bedürfnisse und Themen meiner Azubis stehen für mich klar im Vordergrund und ich werde mit allem, was ich „in meinem Koffer“ dabei habe versuchen sie zu versorgen
- Ich höre zu und biete freibleibende Möglichkeiten an
Ok, ok! Ich spüre mich wieder, bin wieder da. Nun stimmt auch wieder der Kontakt zu den Lehrgangsbetreuern. Was ich da tue, ist für mich sinnvoll und stimmig. Gerne höre ich auch den weiteren Beteiligten zu. Ich bin dankbar für Anregungen oder ignoriere oder lehne ab. Ja, nun ist ein stimmiges Arbeiten in Kontakt wieder möglich.
Ich bin da.
Zum Glück benötigt dieser Prozess real nicht so lange wie ihn hier schriftlich darzu-stellen. Nur ein paar Minuten. Und es ist für mich Selbstfocusing pur.
Focusing braucht keinen bestimmten Platz oder Raum. Es ist aus meiner Erfahrung ein „etwas vollständiger sein“. Ein Feld oder eine Haltung in mir, aus der raus viel mehr möglich ist. Mehr Stimmigkeit und Verbundenheit. Beim Gegenüber und bei mir. Ich möchte hiermit auch dazu animieren, Focusing unabhängig von den räumlichen Gegebenheiten und äußeren Umständen in die Arbeit einfließen zu lassen. Focusing funktioniert in jeder Lage, an jedem Platz. Es brauch nur ein wenig Mut und etwas Freiraum.
Ich bin unglaublich dankbar dieser wunderbaren Methode begegnet zu sein. Seit mittlerweile über 13 Jahren habe ich mit Focusing gelebt, gespürt, experimentiert und immer mehr dazu gelernt. Es ist eine Bereicherung nicht nur für meine Arbeit, sondern für mein ganzes Leben.
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