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Der Focusing-Blog

Ein Essay - ein Versuch zum Prozessmodell

Ein Essay - ein Versuch zum Prozessmodell

Auf der Sommerschule 2023 habe ich ein von Tony Hofmann angeleitetes Seminar zum Prozessmodell von Gene Gendlin besucht. Wir haben versucht, uns prozessartig diesem Buch zu nähern und dafür verschiedene Medien/ Modalitäten eingesetzt. Unter anderen haben wir nachgespürt, welches Lied oder welche Musik das Prozessmodell für uns wäre. Mir ist dabei das Köln-Konzert von Keith Jarret eingefallen. Vielleicht wäre es eine Idee, beim Lesen dieses Blogartikels dieses Stück zu hören.

Das Bild oben ist ebenfalls entstanden, um das Prozessmodell Gendlins auszudrücken. Auch wenn ich das Bild der eigenen Deutung der Betrachtenden überlassen könnte, möchte ich dennoch versuchen, mein Bild in Worte zu fassen. Ein Essay, ein Versuch.

Das Prozessmodell beschreibt etwas linear, was nicht linear ist, was keinen Anfang und kein Ende hat. Es grenzt sich immer wieder ab von herkömmlichen Modellen, wie Gendlin z.B. die Naturwissenschaft oder “ganzheitliche Modelle” nennt. Wo beginne ich daher, zu lesen? Fange ich von vorne an? Ja, das kann ich tun. In meinem Bild ist der Anfang in der Mitte des kleinsten Rahmens. Hier beginnt der Text. Aber hier beginnt nicht der Prozess. Der ist größer und mehr als das, was darüber gesagt werden kann. Das erste Kapitel macht einen ersten Rahmen. Gendlin “definiert” Körper und Umwelt neu. Er richtet die Perspektive auf das bereits Verbundene, das nicht-zu-Trennende von Körper und Umwelt. Die Trennung macht eine Beobachtung aus einer 3. Perspektive, einer Beobachter-Perspektive. Gendlin “definiert” (ich setze das in Anführungszeichen, weil er nicht im herkömmlichen Sinne definiert, sondern auf eine vorläufige Art, so dass ein Einstieg möglich ist) verschiedene Umwelten und bietet damit neue Perspektiven auf ein Geschehen an, wo Einheiten nicht getrennt sind. Körper und Umwelt sind ein Prozess.
Diese erste Rahmung (mein innerster Rahmen) wird nun in einen weiteren Rahmen gestellt: Der Funktionszyklus. Es wird etwas fortgesetzt (die blauen Schlangenlinien “bewegen sich” in den 2. Rahmen): Im zweiten Kapitel beschreibt Gendlin einen Funktionszyklus. Die wichtigsten Begriffe sind hier “implizieren” und “geschehen”. Ein Implizieren impliziert ein Geschehen. Implizieren kann nun auf vielfältige Weise aufgefaltet werden. Ich habe dazu einige Begriffsassoziationen gesammelt:

es kommt (von allein, durch etwas, von außen, von mir, durch andere… – keins davon ist richtig), mitgehen, es trägt voran, folgen, entstehen, drängen, fließen, anstoßen – nicht beliebig und nicht festgelegt.

Im Funktionszyklus ist “geschehen” die passende Antwort auf Implizieren (ich weiß, dass meine Sätze nicht stimmen, sie sind viel zu vereinfachend!). Das Geschehen ist aber nicht vorherbestimmt (determiniert), und dennoch “weiß” das Implizieren, welches das passende Geschehen ist. “Geschehen geschieht ins Implizieren hinein und verändert es” (Gendlin 2016, S. 63, Fußnote). Wenn der Eindruck entsteht, dass die Begriffe sich im Kreis drehen, dann ist es genau richtig. Es ist ja ein Zyklus! Und dennoch verändert sich der Zyklus sofort. Er ist nie gleich. Und so passt dann so ein Satz wie: “Der Prozess ist auf der ganzen Linie ein sich veränderndes Implizieren” (ebd., S. 64).

Und im Bild bewegen wir uns jetzt in den 3. Rahmen, die Spur, die Schlangenlinie setzt sich fort. Das dritte Kapitel handelt von dem, was passiert, wenn ein Prozess gestoppt ist. Wenn vorher der funktionale Zyklus aus Implizieren und Geschehen beschrieben wurde, dann zeigt sich bei einem Stopp, einer Unterbrechung des Zyklus’ etwas Fehlendes. Gendlin nennt das Fehlende “Objekt”. Objekte “entstehen” also nur, wenn der Prozess gestoppt ist. Da ist etwas, was nicht eintritt, was fehlt, damit aus Implizieren Geschehen wird. Immer wieder macht Gendlin Vorgriffe auf die weiteren Kapitel. Es ist eigentlich nicht möglich, das Prozessmodell linear zu schreiben. Es müsste ein Hypertext sein oder ein dreidimensionales Bild, das durchscheinend für alle Ebenen ist. Ich sehe quasi auf der vorderen Ebene (wie in meinen 1., 2. und 3. Rahmen) bereits die dahinter liegenden Rahmen. Etwas ist gleich (das deute ich mit den Rahmen an, die sich ähneln), etwas geht auch weiter (das deute ich mit der Schlangenlinie an, die sich scheinbar von der Mitte nach Außen bewegt, da ich es auf diese Art und Weise jetzt darstelle). Und immer ist darin auch mehr als das, was schon zu sagen und zu verstehen ist (das deute ich in meinem Bild mit der blauen Linie an, die sich quer von links nach rechts (oder umgekehrt) durch das ganze Bild zieht). Diese Linie ist der “eigentliche” Prozess, der beschrieben werden soll. Er passt in keines der Rahmen/Kästchen, sondern liegt jenseits davon, hat keinen Anfang und kein Ende.
Hier endet zunächst meine Kenntnis des Prozessmodells bzw. was ich schon darüber sagen kann. Was ich hier schreibe, ist das grün Umkreiste: Ich fokussiere einen Ausschnitt und fange von dort an, mein Verständnis zu beschreiben. Darin nehme ich bereits aus anderen Linien etwas auf.
Mein Bild geht auch noch über die bisher beschriebenen inneren Rahmen (Kapitel I-III) hinaus. Es gibt weitere Rahmen, in denen sich die Schlangenlinie fortsetzt. Schließlich ist ein weiterer Rahmen (in Rosa) zu sehen, der irgendwie quer zu den anderen Rahmen steht. Das ist quasi das Buch, das etwas zeigen möchte in der Aufteilung in Kapitel. Allerdings bleibt dieser Rahmen offen. Gendlin hat das achte Kapitel mit Teil A begonnen, aber es gibt kein B. Das Buch ist also nicht zu Ende. Es ist wie unvollendet. Es gibt einen Appendix zu VIII-A (Gendlin verwendet römische Zahlen für die Kapitel). Dieser beginnt mit folgenden Sätzen:

“Dieser Appendix wurde in früheren Fassungen ‘Kapitel VIII-B’ genannt. Aber das war ein Fehler. VIII-B ist in der Welt noch nicht möglich. Wenn man Kapitel VI-B in Beziehung zu Kapitel VI-A anschaut und Kapitel VII-B in Beziehung zu Kapitel VII-A, dann wird deutlich, dass sich noch kein Gesamtkontext von Konzepten, Aussagen und Handlungsweisen entwickelt hat, der ein ‘B’ werden könnte” (ebd., S. 472).

Ich finde es sympathisch und konsequent, ein Buch über ein Prozessmodell nicht abzuschließen. Es ist wie eine Einladung, selbst ein (bzw. viele) Kapitel VIII-B zu denken und zu schreiben. Wer auch Lust hat, sich offen prozessorientiert denkend und erlebend zu Focusing und anderen Themen auszutauschen, kann dafür - neben Kommentaren hier, die immer willkommen sind - auch auf der Plattform adventuria.org umschauen. Dort entsteht gerade eine Gruppe, die sich zu "Denken in Prozessen" austauscht.

 

 Gendlin, Eugene (2016): Ein Prozessmodell. 2. Aufl., Freiburg/München: Karl Alber.

 

 Christiane