Spirituelle Begleitung, Pfarrer*innen, Theolog*innen
Dort wo die Sprache aufhört – oder wieder anfängt. Das Nicht-Wissen als Verbindung zwischen Focusing und Spiritualität. Peter Lincoln
Vor knapp über hundert Jahren im Jahr 1917 erschien ein bahnbrechendes Buch von dem deutschen Religionswissenschaftler Rudolf Otto unter dem Titel „Das Heilige“. Ähnlich wie William James einige Jahre davor untersucht Otto auf einer phänomenologischen Art das religiöse Erleben der Menschen,
vor allem das Phänomen des Numinosen. Damit beschreibt er eine Art der religiösen Erfahrung, die zugleich schauervoll und faszinierend wirkt – das mysterium tremendum. Dieses Buch sollte sich als revolutionär erweisen, denn Karl Barth, Rudolph Bultmann und andere sogenannte „dialektische“ Theologen nahmen diesen Faden auf und machten die Erfahrung von Gott als dem „ganz Anderen“ zum Mittelpunkt ihrer Theologie. Im Gegensatz zum greifbaren humanistischen Gottesbild der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts, einem Gott der alles Gute und Schöne verkörperte, bahnte sich ein grundsätzlich anderes Gottesverständnis an – eins, das besser zu den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und zum neuen Gefühl des Lebens in der Großstadt passte. (Darüber habe ich vor 40 Jahren unter dem Titel „Dualism and mediation: German literature and theology in the years 1910 to 1925“ meine Promotionsarbeit geschrieben!)
Language at the edge
Mit dem neuen Gottesbild stellte sich die Frage: Wie kann man von so einem „Gott“ reden, wenn es um ein „Ganz Anderes“ geht? Wittgenstein – ungefähr zur selben Zeit - hatte die Grenzen der Sprache klar festgelegt: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Dichter und Theologen waren aber nicht bereit, dieses Sprachverbot anzunehmen. Die Theologen entwickelten eine „dialektische“ Art darüber zu reden, die sowohl das Unbegreifliche als auch das Anziehende zu berücksichtigen versuchte. Dichter wie Rilke benutzten Bilder oder Symbole, um die Grenzen des Sagbaren noch ein wenig auszudehnen. Das Bild des Engels, zum Beispiel, in den Duineser Elegien (zwischen 1912 und 1922 geschrieben) fasst mit dichterischen Klarheit das zusammen, womit sich Otto in Bereich der Theologie zur selben Zeit beschäftigt: „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang…. Ein jeder Engel ist schrecklich.“ (Erste Elegie)
Dieses Ringen mit der Sprache am Grenzbereich des Beschreibbaren ist etwas, das Focusing und Spiritualität gemeinsam haben. In jeder spirituellen Tradition, ob buddhistisch, Sufi, jüdisch oder christlich, begegnen uns Mystikerinnen und Mystiker, die entweder in der Kontemplation die Worte hinter sich lassen, um sich in der ‚Wolke des Nicht-Wissens‘ aufzuhalten, oder nach einer passenden Sprache ringen für das, was sie erlebt haben. Bei Focusing geht es auch um einen „wortlosen Platz“, um Gendlin zu zitieren: „Wer möchte mich mitnehmen an den Platz, an dem etwas da ist, was gesagt werden möchte, es aber noch unklar ist, wie es gesagt werden könne. Das ist ein Felt-Sense-Platz….“
(Focusing und Philosophie S. 52).
Man könnte an dieser Stelle fragen, ob es hier um eine andere Art von Platz geht als den, die die Theologen meinen – um etwas Innerliches und nicht um etwas „Religiöses“, das von außen kommt. Vor hundert Jahren hätten die Theologen bei diesem Thema wahrscheinlich behauptet, dass es sich hier eher um ein „psychologisches“ Phänomen handelt. Damals schien es von der theologischen Seite eine klare Trennung zu geben – hier das normale menschliche Leben mit Worten, die es ausreichend umfassen, und da das Spirituelle, das ganze Andere, wo Worte versagen, wo die Sprache aufhört oder von der anderen Seite offenbart wird. Diese Unterscheidung zwischen ‚normalem‘ und ‚spirituellem‘ Erleben wird heute immer schwerer aufrecht zu erhalten. Die Naturwissenschaft, vor allem in der Quantenphysik, hat das Nicht-Wissen in der Gestalt von Unschärfe entdeckt, die der Materie grundsätzlich innewohnt. Die Theologie hat an vielen Stellen durch die Wiederentdeckung der Mystik angefangen, sich von dem dualistischen Gegensatz zwischen dem Geistlichen und dem Materiellen zu verabschieden. Sie beschäftigt sich weniger mit der Frage, was das Heilige ist, und immer mehr mit der Frage: wie wird es beschrieben – mit anderen Worten die Verbindung zwischen Erleben und Symbolisieren. Das Thema von Rudolf Otto und William James (Was erleben Menschen und wie beschreiben sie es?) wird dadurch neu aufgegriffen.
Die Sprache des Nicht-Wissens
Worte, Begriffe und Beschreibungen sind trotz ihrer Unzulänglichkeit extrem wichtig – wie jeder Mensch weiß, der Focusing praktiziert. Das sind ganz besondere Momente im Focusingprozess, wenn ein Wort aus dem Felt sense entsteht, das ziemlich genau zu dem passt, was ich gerade spüre. Es fühlt sich stimmig an und es bewegt sich etwas in mir, was weiter führt. Aber wie würden wir diese Art von Sprache benennen? In Antwort auf diese Frage benutzen Focusing und Spiritualität ein ähnliches Vokabular.
Richard Rohr, Franziskanerpater und Autor mehrerer Bücher über christliche Spiritualität, beschreibt in seinem Buch „Der göttliche Tanz“ das Ringen um die Sprache wie folgt: „Unser Reden von Gott ist eine einzige Suche nach Vergleichbarkeiten, Analogien und Metaphern. Alle theologischen Begriffserklärungen sind immer Annäherungen, die wir in heiliger Ehrfurcht vorsichtig tastend anbieten. Mehr kann menschliche Sprache nicht leisten. Wir können sagen: „Es ist wie…, Es ist so ähnlich wie…“, aber wir können nie sagen: „Es ist…“. Denn wir bewegen uns im Bereich des Jenseitigen, der Transzendenz, des Mysteriums. Und wir müssen uns – absolut! – eine grundsätzliche Demut vor dem großen Geheimnis bewahren. Wenn wir das nicht tun, betet Religion nur sich selbst und ihre eigenen Formulierungen an, aber nicht Gott…“. Und ein paar Seiten weiter schreibt er: „Die griechische Wurzel des Wortes „Metapher“ bedeutet „hinübertragen“. Es geht also darum, etwas von einem Ort zum anderen zu bringen. Das Paradoxe daran ist: Alle Metaphern hinken von Natur aus. Und doch tragen sie eine wichtige und dringend benötigte Last.“
Als ich diese Zeilen las, musste ich an Gendlins Verständnis von Sprache in “Focusing und Philosophie” denken: “Die Art und Weise der Beziehung zwischen Felt Sense und Konzepten, die für uns am interessantesten ist, nenne ich “carrying forward”. Das kann übersetzt werden mit „fortsetzen“ oder „weitertragen“. Es ist ganz hübsch, dass „weitertragen“ eine wörtliche Übersetzung des griechischen Wortes metaphora ist, aus dem wiederum der Begriff „Metapher“ abgeleitet ist.“ (S. 73) Oder an anderer Stelle: „Wenn ich über das spreche, was ich nicht weiß - über die Katze oder das Ganze, das riesengroß ist, und das ich nie werde umgreifen können und von dem ich ein Teil bin – liegt dieses Nicht-Wissen in den Begriffen, in den Konzepten.“ (S. 56)
Focusing und Spiritualität – ideologiefrei?
Sobald das Nicht-Wissen als Grundhaltung nicht mehr vorhanden ist – und hier sind sich beide Autoren einig – passiert etwas Verhängnisvolles: es wird versucht, etwas festzumachen, was nicht festzumachen ist und die Türen zum Dogmatismus und Fundamentalismus werden geöffnet. Dann fängt die Religion an – wie Rohr treffend behauptet – sich selber und ihre Formulierungen anzubeten. Und Focusing – um ein Thema der letzten Hefte an dieser Stelle aufzugreifen – wird nicht mehr ideologiefrei! Wieder ist es Gendlin, der es auf den Punkt bringt: „Wenn ich mir aber bewußt bin, dass die Begriffe und Konzepte das Ganze niemals umfassen können, sind alle Konzepte, das ganze alte Vokabular und die alten Traditionen wieder gut und brauchbar. Nicht, dass sie einzeln und für sich genommen richtig wären, denn einzeln genommen ist keines von ihnen richtig. Wenn ich sie aber verbinde mit dem, was ich ohne Konzepte weiß oder bin, sind sie alle wieder gut.“ (S. 56)
Ein Beispiel aus der hebräischen spirituellen Tradition kann uns zeigen, dass Ideologie und Religion nicht unbedingt immer gleichzusetzen sind und zeigt einen Weg, Focusing mit Spiritualität zu verbinden, ohne zu manipulieren oder in die „Ideologiefalle“ zu geraten.( Ich gehe davon aus, dass es ähnliche Beispiele aus anderen Traditionen gibt, wähle hier aber die jüdisch-christliche, weil ich mich dort am besten auskenne!). Im dritten Kapitel des zweiten Buchs Mose wird die Begegnung Mose mit dem Numinosen am Berg Horeb geschildert. Es fängt mit der Wahrnehmung eines ziemlich „normalen“ Gegenstandes an, nämlich mit einem brennenden Dornbusch. Mose wird dort hingezogen, weil er merkt, dass es sich um etwas mehr handelt. Ähnlich wie Rudolf Otto es bezeichnet, wird er von einer Art mysterium tremendum gleichzeitig angezogen und abgewehrt: „denn der Ort auf dem Du stehst ist heiliger Boden…“ Das „Heilige“ nur zu erleben, reicht Mose nicht aus, also fragt er nach dessen Namen. Als Antwort kommt etwas, was in der jüdischen Tradition so heilig ist, dass es nicht ausgesprochen werden darf und oft mit dem Namen Jahweh wiedergegeben wird. In der Lutherbibel wird übersetzt „Ich werde sein, der ich sein werde.“ Mit anderen Worten kommt aus dem brennenden Dornbusch paradoxerweise ein Name, aber einer, der es verbietet, auf irgendeine Weise mit Namen festgehalten zu werden. Der Name deutet auf etwas hin, das ständig im Fluss ist und nicht durch ein Wort für immer greifbar gemacht werden kann. Es ist, also ob das Heilige sich den Menschen ungefähr so mitteilt: „In jeder Situation und in jeder Begegnung werde ich das sein, das ich in der Situation für Euch sein werde.“ Ein einziger Name wird all dem nicht gerecht werden können.
Wo Focusing geschieht – oder aufhört!
Das alttestamentliche Beispiel kann uns helfen, wenn es darum geht, eine Verbindung zwischen Focusing und Spiritualität zu suchen oder anzuwenden. Unsere Erfahrung zeigt uns, dass es etwas gibt, das wir nicht beschreiben können und mit dem wir mit einer gewissen Ehrfurcht oder Behutsamkeit umgehen wollen. Ob dieses „Etwas“ in uns in der Form eines Felt sense (…)ist oder manchmal auch als außerhalb von uns als etwas Heiliges (…) wahrgenommen wird, spielt an dieser Stelle keine Rolle. In beiden Fällen spüren wir etwas und lassen daraus Worte entstehen, die zu unserem gefühlten Erleben passen. So weit so gut, denn wenn wir so vorgehen, sind wir noch beim Focusing. Wenn eine Begleiterin oder ein Anleiter eines Gruppenfocusing uns als Vorschlag einen Begriff oder einen Namen oder eine Beschreibung anbietet, machen wir immer noch Focusing, denn wir haben zu jeder Zeit die Möglichkeit, den Vorschlag abzulehnen, um für uns etwas Passenderes zu suchen. (Gendlin erwähnt oft, dass ein „falscher“ Vorschlag meistens sehr hilfreich wirkt, denn er hilft uns, bei unserem Felt sense zu bleiben.) Aber wenn jemand mit Begriffen kommt, die ich übernehmen soll, ganz egal ob sie aus dem Bereich der Psychologie, der Esoterik oder Religion stammen, dann haben wir die Praxis des Focusing verlassen und nähern uns dem Bereich der Manipulation oder sogar der Ideologie.
Um es kurz zusammenzufassen: die Schwelle zum Ideologischen oder zu vorgegebenen Inhalten beim Focusing befindet sich dort, wo mir jemand anderes die Leitung und damit die Verantwortung für meinen Prozess aus der Hand nimmt. Anstatt dass die Worte aus meinem Erleben entstehen, wird suggeriert, dass sich mein Erleben einem von außen gegebenen Wort anzupassen hat oder entsprechen soll. Das schließt aber nicht aus, dass ich mich von einem schon gegebenen spirituellen Wortschatz bedienen darf und trotzdem noch Focusing mache. Die uralten spirituellen Traditionen bieten eine Menge heilsamer Bilder an und manchmal ist beim Focusing plötzlich so ein Wort da und passt haargenau.
Ich vermute, dass Religionen oft damit entstanden sind, dass Menschen etwas Besonderes erlebt haben und danach anfingen, nach Worten zu suchen, um es zu beschreiben. Andere merkten, wie diese Symbole oder Worte auch für das passend waren, was sie erlebt hatten und so sind religiöse Gemeinschaften entstanden. Solange die Begriffe zum Erleben passten, blieben die Religionen lebendig. Die Probleme fingen dann an, als spätere Generationen die Begriffe übernahmen, ohne etwas damit erlebt zu haben. Sätze, Symbole, Behauptungen wurden geglaubt, es wurde darüber gestritten und Ideologien wurden geboren. Kirchenkonzile, Bischöfe und Theologen haben dann festgeschrieben, worin „der richtige Glaube“ besteht und haben sich damit von dem offenen „Ich werde sein, der ich sein werde“ entfernt. Im Verlauf der Geschichte gab es aber immer wieder Menschen und Bewegungen – einzelne Mystikerinnen und Mystiker oder Gruppen wie die Wüstenväter – die eine Begegnung mit dem (…) neu gesucht und damit Glauben und Erleben in der Form der Spiritualität wieder zueinander geführt haben.
Gendlin und Meister Eckehart
Eines von Gendlins Lieblingsbüchern war ein Band mit Zitaten von dem deutschen Mystiker des Mittelalters Meister Eckehart. Als ich 2005 mit einigen anderen Ausbilderinnen und Ausbildern an einem Workshop in seinem Wohnzimmer in New York teilnahm, hat er uns einen Satz von Meister Eckehart – „Gott ist dir näher als du dir selbst“ - nach seiner Art ausgelegt. „Das kann alles Mögliche bedeuten. Für mich bedeutet es: Ich weiß über mich, dass ich einer „oben“ bin, der sich bewusst ist und der spricht und handelt, und „unten“ ist auch einer. Der da unten bin ich auch. Und den muss ich manchmal ausgraben, er ist oft verschüttet… Meister Eckehart sagt mir etwas. Er sagt mir: Gott ist dem da unten näher als du ihm bist. Da denke ich mir: Ja, das muss wahr sein, denn ich muss den da unten immer wieder aufs Neue finden. Für mich ist „Gott“ nur ein Wort, das bedeutet: Ich weiß ja nicht, wovon ich lebe. Es lebt mich.“ (Focusing und Philosophie S.57).
Gendlin war es sehr wichtig, dass man Focusing nicht ausschließlich mit einer Religion oder einer Art zu glauben identifiziert. Wenn das Nicht-Wissen darin enthalten ist, sind alle Traditionen brauchbar, wie er selber sagt – wichtig ist nur, dass sie zu unserem Erleben passen. Als einer, der seit über 20 Jahren Focusing im Bereich der Kirchen und Freikirchen unterrichtet habe, bin ich vielen Menschen mit christlichem Hintergrund begegnet, die Focusing einerseits als horizonterweiternd empfunden haben aber gleichzeitig entdecken konnten, wie manch altes vertrautes Symbol oder bekannte Bibelstelle durch das körperliche Spüren ganz neue Wirkung und Bedeutung bekam. Vor diesem Hintergrund habe ich zusammen mit ein paar anderen Focusingmenschen eine kleine Initiative gebildet, um die Verbindung zwischen Focusing und (hauptsächlich) christlicher Spiritualität näher zu erforschen. Als Name haben wir ein altes hebräisches Wort gewählt – ha makom. Auf Deutsch heißt das „der Ort“ und beschreibt einen besonderen Platz, an dem Begegnung (mit uns selber, mit dem Heiligen) geschehen kann. In der rabbinischen Tradition wird ha makom oft sogar als eine Gottesbezeichnung benutzt. Wer die Gedanken dieses Artikels mit uns weiterdenken will, kann uns unter https://ha-makom.de/ finden.
Dr. Peter Lincoln Mai 2018
Literatur:
Frettlöh, Magdalene: Der trinitarische Gott als Raum der Welt. In Der lebendige Gott, Hg. Rudolf Weth, Neukirchener Verlag, 2005.
Otto, Rudolf: Das Heilige: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Trewendt & Granier, Breslau 1917. Nachdruck: Beck, München 2004
Rohr, Richard: Der göttliche Tanz. Adeo Verlag 2017
Wiltschko, Johannes (Hrsg.): Focusing und Philosophie, Facultas Verlag, Wien, 2008.
Die Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2006.
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